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Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)

Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)

Titel: Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Harbort
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auszugehen war, blieb ungewiss.
    Um sich ein Bild von Michaela machen zu können, wurden ihre Eltern, der zwei Jahre jüngere Bruder, nahe Verwandte und Schulfreundinnen befragt. Die 16-Jährige war demnach eine ausgezeichnete Schülerin, besuchte ein Gymnasium und hatte sogar eine Klasse überspringen dürfen. Gelegentlich kümmerte sie sich um das Pferd ihrer besten Freundin, in erster Linie hatte sie sich jedoch dem Handballsport verschrieben – genauso wie ihr Vater. In der Schule als auch im Sportverein galt sie als lebensbejahende junge Frau. Von ihrem Freund, einem 18-jährigen Mitschüler, hatte sie sich einen Monat vor ihrem Verschwinden getrennt. Ihrer Freundin hatte sie von einer neuen Beziehung erzählt, den Namen aber nicht preisgeben wollen. Warum sie zur Tatzeit im Stadtwald gewesen war, konnte niemand sagen. Michaela wirkte zuletzt optimistisch und gelöst. Jetzt war sie tot. Ermordet.
    Über die Lokalpresse wurde die Bevölkerung mobilisiert. Ohne »sachdienliche Hinweise« würde man nicht weiterkommen, davon waren die Ermittler nach anderthalbwöchigen intensiven Ermittlungen überzeugt. Ihr Eifer wurde belohnt. Wenige Stunden nach Auslieferung der Essener Lokalzeitungen erschien eine junge Frau im Präsidium. »Es geht um die Sache mit dem Mädchen im Stadtwald«, begann die 22-jährige Studentin zu erzählen, »so gegen 18.30 Uhr bin ich da lang gerannt. Das ist meine Strecke, da laufe ich fast jeden Tag. In der Nähe, da, wo das Mädchen gefunden wurde, habe ich einen jungen Mann gesehen. Der kam plötzlich aus dem Gebüsch gestürzt und ist weggerannt. Komisch, habe ich mir gedacht. Irgendwie komisch.«
    Jetzt gab es einen Verdächtigen. Seine Beschreibung wurde am nächsten Tag in allen Essener Tageszeitungen abgedruckt: »20 bis 22 Jahre alt, etwa 1,72 Meter groß, schlank, gepflegte Erscheinung, dunkelblondes Haar, leicht gewellt und zurückgekämmt, frisches Gesicht, hohe Stirn. Der Mann trug einen beigegrauen Anzug und ein auffallendes gelbes Campinghemd.«
    Es meldeten sich insgesamt 16 Bürger, allen Hinweisen wurde Beachtung geschenkt. Nicht wenige junge Männer, die auffällige gelbe Campinghemden zu tragen pflegten und auf die auch die übrigen Merkmale mehr oder weniger zutrafen, wurden von der Mordkommission unter die Lupe genommen. Die Beamten stießen auch auf eine ganze Reihe Verdächtiger, mit der sie sich zu befassen hatten: zwei notorische Exhibitionisten; ein 25-jähriger Jogger, der sich aber als gesuchter Bankräuber entpuppte; ein Maurer, 26, der in der Nähe des Leichenfundortes sein Geschäft verrichten musste; ein Hausierer, der das gelbe Hemd allerdings kurz zuvor von einer Wäscheleine geklemmt hatte; ein Kellner, der das vermeintliche Beweismittel aber erst nach dem Mord geschenkt bekommen hatte. Auch Michaelas Exfreund wurde überprüft. Aber der besaß nicht ein einziges gelbes Hemd und hatte zur angenommenen Tatzeit mit drei Freunden für ein Theaterstück geprobt, das die Laienspielgruppe der Schule zwei Wochen später aufführen sollte. So blieb der »Mörder mit dem Campinghemd« ein Phantom.
    Auch das im Mund des Opfers gefundene Taschentuch, das nicht Michaela gehörte, führte zu keiner Spur. Es war ein umgearbeitetes Kaffeebeutelchen, wie es von einer Hamburger Versandfirma an Privatleute verschickt wurde. Wochenlang wurde die Kundenkartei der Firma mit zehntausenden Adressen auf Hinweise durchgearbeitet.
    Das Ergebnis aller Bemühungen: Fehlanzeige. Es vergingen Tage, Wochen, Monate – ohne dass sich ein Erfolgserlebnis einstellen wollte. Der anfängliche Optimismus der Kommission »Michaela« war nun wie weggeblasen, und die Presse begann zu sticheln. Über »erfolglose Ermittlungen« wurde berichtet, andernorts hieß es: »Fahndung ins Ungewisse«.
    Er wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Es war unerträglich geworden. Ziellos schlenderte er durch die spärlich beleuchteten Straßen, strich immer wieder mit den Händen durch sein blondes Haar, das er streng nach hinten gekämmt trug. Die Erinnerung an das, was in den Monaten und Jahren zuvor geschehen war, konnte er nicht auslöschen. Wie konntest du mir das nur antun! Er war blamiert worden, erniedrigt, gedemütigt. Obendrein drückten ihn hohe Schulden. Um all dem zu entgehen, war er vom Lande in die Großstadt gezogen, hatte in Essen einen neuen Anfang versucht – als Handelsreisender für Küchenmaschinen.
    Wieder eine Sackgasse, aus der er nicht herausgekommen war. Er hatte kaum Umsatz

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