Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)
gemacht, sich mitunter tagelang nichts zu essen kaufen können. Das Luftschloss, in das er bereitwillig und hoffnungsfroh eingezogen war, hatte sich als düstere Ruine entpuppt. Schwere Depressionen quälten, lähmten ihn, er war fix und fertig. Eine radikale Lösung seiner Probleme hatte er mitunter in Erwägung gezogen, aber jedes Mal verworfen. Selbstmord kam für ihn nicht infrage. Er wollte leben.
Vor einer Litfaßsäule machte er Halt. Er studierte aufmerksam das rot eingerahmte Fahndungsplakat, begann zu lesen: »Mord an Michaela Kurth. (…) Wer kennt diesen Mann? (…)« Als er fertig war, stutzte er. Dann studierte er den gesamten Text ein zweites Mal. Plötzlich ergriff ihn ein Gedanke, eine Idee. Er brauchte nicht lange zu überlegen, schnell stand sein Entschluss fest. Er war unumstößlich. Es muss ENDLICH Ruhe sein!
Ähnlich hatten all jene empfunden, die sich Michaela verbunden fühlten. Die 17 Tage der quälenden Ungewissheit, als sie noch vermisst wurde, waren für ihre Familie nahezu unerträglich gewesen. Mutter und Vater hatten engen Kontakt zur Polizei gehabt. Beharrlich war die Suche nach Michaela vorangetrieben worden. Herumgekommen war dabei allerdings wenig, eigentlich nichts. Jeden Tag dieselbe Enttäuschung: »Wir haben noch kein Lebenszeichen.« Oder: »Nein, wir haben sie noch nicht gefunden.« Sie hatten unverdrossen gebangt, gehofft, gelitten, auch versucht, sich auf das Schlimmste vorzubereiten. Und doch hatte sie die Todesnachricht getroffen wie ein Keulenschlag.
Aber die niederschmetternde Bestätigung der schlimmsten Befürchtungen war eine schmerzhafte Voraussetzung gewesen, um mit der Trauerarbeit beginnen, um sie meistern zu können. Das Martyrium indes hatte lediglich ein neues Gesicht aufgesetzt, eine hässliche Fratze. Solange der Täter nicht gefasst war, würde keine Ruhe einkehren. Aus dem Albtraum war ein Trauma geworden, das ungeklärte Verbrechen an Michaela war jetzt der fruchtbare Nährboden für unerwünschte und ungeheuerliche Phantasien, die Mutter, Vater, Tochter, Verwandte und Freunde heimsuchten. Einige Fragen waren zwar beantwortet worden, aber dafür hatten sich neue aufgedrängt: Warum ist das überhaupt passiert? Warum gerade Michaela? Hätten wir es verhindern können? Warum sind wir nicht bei ihr gewesen? Was ist ihr in den letzten Stunden widerfahren? Hat sie gelitten? Und vor alledem: Wer hat sie umgebracht?
Er hatte noch einmal darüber schlafen wollen. Jetzt war er so weit, wollte Schluss machen mit seinem verpfuschten Leben, der Einsamkeit, den Enttäuschungen, den Entbehrungen. Gut sechs Monate nach der Ermordung von Michaela Kurth betrat er die Wachstube des Polizeireviers Essen-Borbeck. Es war der 13. Februar 1960, ein Sonnabend, kurz nach Mitternacht. Das, was er in dürren Worten erklärte, elektrisierte die Beamten: »Ich habe die Michaela Kurth getötet.«
Unverzüglich wurden die zuständigen Ermittler aus dem Bett geklingelt. »Hier sitzt ein gewisser Konrad Meckler, 23 Jahre alt, geboren in Würzburg, Industriekaufmann, behauptet steif und fest, die junge Frau im Stadtwald getötet zu haben.«
Eine Dreiviertelstunde später saßen zwei Kripobeamte dem Verdächtigen gegenüber. Der gestand, dass er Michaela im Freibad am Baldeneysee kennen gelernt, mit ihr ein Verhältnis begonnen und sich mit dem Mädchen auch am Tage ihres Verschwindens getroffen habe. Später habe er ihr gebeichtet, verheiratet zu sein. Sie sei deswegen »sauer gewesen«, habe weglaufen wollen. Aber: »Ich habe sie nicht gehen lassen, sie am Halstuch festgehalten. Und dann habe ich zugezogen.«
Die Kriminalisten waren skeptisch. Meckler verstrickte sich in Widersprüche. Er gab zu, Michaela getötet zu haben; nur wie, das wusste er nicht exakt zu sagen. Und an das Taschentuch in der Mundhöhle des Opfers musste der selbst ernannte Verdächtige auch erst erinnert werden, bevor er sich dazu bekennen konnte: »Ja, ich habe sie geknebelt.« Meckler war längst nicht in der Lage, alle Fragen zufrieden stellend zu beantworten. Nur in einem Punkt blieb er standhaft: »Das habe ich nicht mit Absicht gemacht!« Angeblich wollte er die junge Frau bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt, sie dann im Gras liegen gelassen haben. Allerdings konnte Meckler die Beamten auch mit Detailwissen überzeugen.
Der Erfolg war greifbar nahe. Und die Ermittler des Essener Präsidiums hatten ihn auch bitter nötig. Der Druck der Öffentlichkeit, den Fall »doch endlich« aufzuklären, war immens.
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