Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)
Essen. Seine Aufgaben: Spurensicherung und -auswertung. Der Kriminalhauptmeister war zufällig in anderer Sache in der Nähe des Stadtwalds unterwegs gewesen, als er einen Funkspruch mitgehört hatte: »Gruga 12/24, fahren Sie Stadtwald, Südtor. Code 101. Sie werden erwartet.« »Code 101« bedeutete, dass eine »Leichensache« zu bearbeiten war. Am Treffpunkt hatten drei Jugendliche auf ihn gewartet, allesamt blass um die Nase. Sie gehörten zur Pfadfindergruppe St. Georg, die an diesem Tag ein Geländespiel veranstaltete. Dabei waren die Jungen auf etwas gestoßen, das sie fortan als unliebsame Erinnerung begleiten würde.
Er drehte sich wieder um und schoss noch ein Bild, diesmal aus kurzer Entfernung. Der süßliche, strenge Geruch stieg ihm jetzt in die Nase. Er legte die Kamera beiseite, nahm seinen Notizblock und begann zu notieren: »Rückenlage, Madenfraß. Kopf vom Rumpf getrennt, auf der rechten Gesichtshälfte liegend. Teilskelettiert. Rechter Arm angewinkelt, Handfläche zeigt zum Boden. Linke Hand ausgestreckt, schräg vom Körper entfernt. Fingerspitzen in Höhe der Gürtellinie. Beine leicht gespreizt. Rechter Fuß auf dem Boden, flach ausgestreckt, Zehenspitzen zeigen nach oben. Linker Fuß angewinkelt. Hackenpartie in Höhe des Knies. Bauchraum und Beine stark aufgedunsen.«
Teufel legte Stift und Papier neben sich auf den Boden und nahm ein Paar Einmal-Handschuhe aus dem Spurensicherungskoffer. Er hatte im Mund des Leichnams etwas gesehen. Teufel konnte nicht erkennen, was es war, aber zweifellos gehörte es nicht dorthin. Jemand musste es dort deponiert haben. Als er den Kopf mit der rechten Hand festhalten wollte, um den Gegenstand zu bergen, löste der Schädel sich vollends vom Rumpf. Wieder wurde ihm übel.
Nach einem kurzen Verschnaufen griff Teufel abermals nach dem Kopf. Mit Daumen und Zeigefinger umfasste er den weiß-grauen Gegenstand, zog ihn langsam hervor, legte ihn auf einer Papiertüte ab. Dann nahm er ein 5-Mark-Stück aus seinem Portemonnaie, legte es daneben und fotografierte alles. Für Teufel war das Routine. Was der dreifache Familienvater indes nicht ahnen konnte: Er hielt ein Beweismittel in Händen, dem später entscheidende Bedeutung zukommen würde. Teufel steckte es in die Papiertüte.
Er griff wieder zu seinen Schreibutensilien und notierte: »Unterkiefer vom oberen Teil des Schädels getrennt. Halstuch in Höhe des 4. oder 5. Halswirbels, doppelt geknotet. Farnkraut in der Verknotung. Drosselung?!« Mittlerweile war auch ein Streifenwagen der Schutzpolizei eingetroffen. Teufel wies seine Kollegen an, den Leichenfundort weiträumig abzusperren. Das Schlimmste hatte er noch vor sich. Er musste den toten Körper entkleiden. Das Ergebnis seiner Untersuchung hielt er auf mehreren Fotos fest: Der Brustkorb war eröffnet, einzelne Rippen ragten hervor. Der Bauchraum war übersät mit Maden. Auch zur Bekleidung machte er sich Notizen: »Rot-weiß gestreifter Pullover, langärmelig. Nietenhose, eng anliegend. Unterwäsche fast vollständig zerstört.« Wenige Meter von der Leiche entfernt lagen weiße Damensandaletten, ein Fahrtenmesser mit Scheide, ein Gürtel und ein grüner Bastbeutel.
Teufel wusste um die »Vermisstensache Kurth«. Er kannte zwar keine Details, aber er ahnte instinktiv, dass es sich um den Leichnam des jungen Mädchens handeln könnte. Die kriminalistische Beurteilung bereitete ihm weniger Kopfzerbrechen: Fremdeinwirkung. Das Farnkraut auf der Leiche, wie auch das zu einer Schlinge verknotete Taschentuch im Halsbereich ließen keine andere Schlussfolgerung zu.
Konsequenz dessen war die Einrichtung einer Mordkommission. 16 Beamte nahmen sich des Falls an. Schnell stellte sich heraus, dass es sich bei dem Opfer um Michaela Kurth handelte. Die aufgewühlten Eltern identifizierten die Kleidung der Toten als die ihrer Tochter. Eine Vergleichsuntersuchung des Zahnschemas beseitigte letzte theoretische Zweifel.
Das Ergebnis der Obduktion hingegen war nicht eindeutig. Die Untersucher teilten mit, dass zur Todesursache »nichts Sicheres gesagt werden kann«. Maden und anderes Getier hatten ganze Arbeit geleistet, die Fäulnis hatte Organe und Innereien zudem nahezu vollständig zersetzt. Allerdings sei »Erdrosseln mittels des Haltstuches am wahrscheinlichsten«. Auch das Motiv konnte durch die Gerichtsmediziner nicht erhellt werden. »Eine Defloration hat nicht stattgefunden«, hieß es. Ob ein sexueller Hintergrund vorlag oder von einer »Beziehungstat«
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