Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)
dieser Hinsicht sehr vorsichtigen Kriminalisten konnten sich dieser bedrückenden Annahme nicht mehr verschließen. Beide Opfer waren Kinder, 11 und 13, trugen zur Tatzeit einen roten Mantel, wurden vormittags in der Nähe eines einsamen Feldwegs getötet, jeweils durch »Einwirkung gegen den Hals«, die Tatorte trennten zudem nur wenige Kilometer. Die Annahme, dass etwa zur selben Zeit in der Region Dinslaken/Walsum zwei Täter mit nahezu identischem Modus Operandi »Lustmorde« an Kindern verübt hatten, vermochte niemanden zu überzeugen. Derjenige, der über Ilona hergefallen war, hatte auch Monika umgebracht. Und weil Rüdiger Karthaus den zweiten Mord nicht begangen haben konnte, musste er freigelassen werden.
Die Ermittler der zuständigen Kriminalhauptstelle Essen mussten von vorn beginnen. Die Ausgangslage war allerdings mehr als ungünstig. Der Mord an Ilona Dönges bot kaum Ermittlungsansätze, mittlerweile hatte der Täter einen Vorsprung von neun Wochen, und bei Monika Reimer tappte man vollends im Dunkeln. Am Tatort konnten nach »derart langer Liegezeit« keine »verwertbaren Spuren« gesichert werden, sogar die Todesursache blieb zunächst vakant, obwohl Würgen oder Drosseln vermutet wurde. Um mehr Informationen zu bekommen, fuhren noch am selben Montagabend Lautsprecherwagen durch die Bergarbeitersiedlungen Walsums und riefen die Bevölkerung zur Mithilfe bei der Fahndung auf.
Einen Tag nach ihrer Entdeckung wurde die Leiche obduziert. Aber weder äußere noch innere Besichtigung ergaben Hinweise darauf, wie Monika ums Leben gekommen war, Fäulnis und Maden hatten ganze Arbeit geleistet. Der Gerichtsmediziner entnahm deshalb den unversehrten rechten Kopfnickermuskel und einen Teil des rechten Lungenoberlappens. Zwischen den einzelnen Muskelfaserzügen des Kopfnickermuskels fanden sich sowohl an der Oberfläche als auch in der Tiefe des Gewebes Ansammlungen von Blutpigmenten. Ein gleichartiger Befund ergab sich bei der Untersuchung des Lungenoberlappens, und zwar unterhalb des Lungenfells und zwischen den netzförmigen Bindegewebsstrukturen. Diese »typischen Erstickungsblutungen« führte der Sachverständige auf »eine gewaltsame Einwirkung am Hals« zurück. Ob das Opfer erwürgt oder erdrosselt worden war, blieb indes offen.
Nachdem man auch die Kleidung Monikas durch einen Spezialisten des Bundeskriminalamtes hatte untersuchen lassen, waren die rechtsmedizinischen Untersuchungen abgeschlossen. Das Ergebnis war äußerst dürftig, bis auf den Befund des Pathologen hatten die Ermittler keine neuen Erkenntnisse gewinnen können. Es war wie verhext, sie standen mit leeren Händen da.
In der 6. Klasse der Lindenschule blieb fortan an einem der vorderen Tische ein Stuhl leer – dort hatte Monika gesessen. Keine ihrer Klassenkameradinnen wollte sich auf diesen Platz setzen. Viele Eltern ließen ihre Kinder nun nicht mehr unbeaufsichtigt zur Schule gehen, auch wenn es nur ein paar Schritte um die Ecke waren. In allen Schulen mahnten Lehrer zu besonderer Vorsicht, auch Polizeibeamte gaben Verhaltenshinweise. Was viele dachten und befürchteten, erzählte ein 36-jähriger Schlosser einer Walsumer Lokalzeitung: »Wer weiß denn, wann sich dieser Mörder sein neues Opfer sucht? Man ist doch nicht mehr sicher.«
Monikas Eltern waren all dem Leid, das urplötzlich über sie hereinbrach, schutzlos ausgeliefert. Ihre Mutter brach unter der seelischen Last zusammen, der Hausarzt stellte einen »Nervenschock« fest. Auch Heinz Reimer war den beruflichen und väterlichen Pflichten nicht mehr gewachsen, er ging nicht mehr in den Betrieb, saß zu Hause apathisch im Wohnzimmer und versuchte zu begreifen, was nicht zu begreifen war. Die Kinder der Reimers, die achtjährige Birgit und die 14 Monate jüngere Christel, fanden vorerst Zuflucht bei der Klassenlehrerin ihrer ermordeten Schwester.
Unheilvolle, bedrückende Stille war eingekehrt in die Wohnung der Reimers, dort, wo noch vor kurzem fröhliches Kinderlachen widerhallte. Die Reimers hatten für die Wohnung große Opfer bringen müssen. Monatelang hatten sie bis spät in die Nacht hinein für ihr neues Heim geschuftet, die Kinder notgedrungen allein gelassen. Sie waren gerade umgezogen, als Monika ihrem Mörder in die Hände fiel. Große Pläne hatten sie geschmiedet, wollten nach Jahren der Entbehrung endlich wieder mit den Kindern in den Urlaub. All das ergab jetzt keinen Sinn mehr. Um sie herum gab es nur noch Dunkelheit.
Auch die Mehrzahl der 45000
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