Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)
Gelsenkirchen. Über Lautsprecher wurde die Bevölkerung zur Mitarbeit aufgefordert: »Achtung. Hier spricht die Polizei. Gesucht wird die 13-jährige Hanna Brauers. Sie ist etwa 1,50 Meter groß, hat kurze braune Haare und ist bekleidet mit einer blauen Strickjacke, einem gelben Pullover und einem rot-weiß-grün gestreiften Rock. Hinweise bitte an die nächste Polizeidienststelle.«
Bereits am späten Nachmittag erhielten die Ermittler durch die Meldung eines Spaziergängers erschütternde Gewissheit. Der hatte das Mädchen in einem Wäldchen in Wanne-Eickel gefunden, nahe der Bundesstraße 226. Eine Mordkommission, bestehend aus Bochumer und Gelsenkirchener Kriminalisten, begann sofort zu ermitteln. Noch am späten Abend lagen die ersten Ergebnisse vor: Hanna war demzufolge am Mittwochnachmittag zu Bekannten nach Gelsenkirchen-Erle gefahren und gegen 21 Uhr mit einem Schienenbus der Bundesbahn zurückgefahren. Am Hauptbahnhof in Gelsenkirchen hatte sie wenig später ein junger Mann »ausländischer Herkunft« angesprochen, den das Mädchen augenscheinlich kannte. Zeugen wollten sogar den Eindruck gewonnen haben, dass Hanna von ihm erwartet wurde. Sie habe den Mann mit »du« angeredet und sei dann ohne weiteres auf sein Moped gestiegen. Die ersten Untersuchungen am Tatort hatten ergeben, dass Hanna am Fundort missbraucht und anschließend erwürgt worden war. Kampfspuren deuteten auf heftige Gegenwehr des Mädchens.
Während die Fahnder in Gelsenkirchen, Essen, Duisburg und Düsseldorf erfolglos blieben, konnten ihre Kollegen in Köln einen Volltreffer landen. Endlich. Ingo Kappes, der mutmaßliche Mörder von Ingeborg Anders, war geschnappt worden, auf der Autobahn zwischen Heilbronn und Stuttgart. Hier war er einer Autobahnstreife aufgefallen, weil er seinen Wagen an einem Seil hinter sich herzog. Ihm war das Benzin ausgegangen.
Nach zwei Stunden Kreuzverhör hatte der Sohn eines Zahnarztes ein Geständnis abgelegt: »Sie war so süß, ich konnte nicht anders. Später habe ich sie in den Fluss geworfen, obwohl ich wusste, dass sie noch lebte.« Er war im Kölner »Königsforst« über sein Opfer hergefallen und hatte das wehrlose Mädchen später in der Nähe von Bonn in den Rhein geworfen. Blut- und Faserspuren am Tatort und im Wagen von Kappes bestätigten seine Aussagen. Es bestand kein Zweifel mehr: Er hatte Ingeborg getötet. Und vielleicht auch Ilona? Oder Monika? Oder Manuela? Oder alle drei?
Die Kölner Kriminalisten fragten nach, und sie bekamen Antwort: »Quatsch, kann ich nicht gewesen sein, war die ganze Zeit krank.« Tatsächlich konnte er für die Zeit vom 15. Mai bis zum 18. Juni ein nicht zu erschütterndes Alibi vorweisen: Er hatte wegen einer Salmonellen-Infektion in einem Essener Krankenhaus gelegen, auf der dortigen Quarantänestation.
Unterdessen war die Kripo in Gelsenkirchen einen wichtigen Schritt vorangekommen. Die Ermittler hatten einen 24-jährigen Italiener kassiert. Man war dahinter gekommen, dass Guiseppe Rocca derjenige gewesen war, der Hanna Brauers am Bahnhof in Gelsenkirchen abgeholt und mitgenommen hatte. Der zweifache Familienvater war am selben Abend erst gegen 22 Uhr in seine Wohnung im Gelsenkirchener Stadtteil Erle zurückgekehrt und konnte für die Tatzeit kein Alibi vorweisen. An seiner Jeanshose fanden sich zudem frische Blutspuren, deren Herkunft Rocca nicht erklären konnte. Und die am Tatort gefundenen Reifenspuren passten augenscheinlich zum Moped des nun »dringend Tatverdächtigen«.
Der Hinweis auf Rocca war von jener Familie gekommen, die Hanna kurz vor ihrer Ermordung besucht hatte. Der mutmaßliche Mörder, nach eigenem Bekunden mit Hanna »locker befreundet«, war auch kurz dort gewesen. Die Kripo vermutete, dass er sich mit der 13-Jährigen für abends verabredet hatte. Das aber wollte der Verdächtige partout nicht bestätigen. Und Rocca bestritt auch vehement, später mit Hanna in den Wald gefahren zu sein und sie dort getötet zu haben. Das Amtsgericht Gelsenkirchen favorisierte schließlich die Tatversion der Kripo und schickte Rocca ins Gefängnis.
Während in Köln und Gelsenkirchen die Bürger ein wenig durchatmen konnten, herrschte am Niederrhein und nahezu im gesamten Ruhrgebiet Alarmstimmung. Überall wurde über »die verdammten Kindermörder« geschimpft, diskutiert, gerätselt. Die Düsseldorfer Nachrichten installierten ein »Bürgertelefon«. Das Meinungsspektrum der Leserschaft schwankte heftig zwischen Verständnis und
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