Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)
Ausland.
Drei Kindermorde innerhalb von 16 Tagen ließen die Kripo am Niederrhein nervös, die besorgten Bürger hysterisch und die Presse süchtig werden – schlechte Nachrichten sind eben auch immer gute Nachrichten. Schnell machten Gerüchte die Runde: »Bei der Polizei sind noch Hunderte Kinder vermisst gemeldet!« Bis zum 30. Mai waren der Landeskriminalpolizei in Nordrhein-Westfalen tatsächlich 293 Kinder als vermisst gemeldet worden, 109 Mädchen und 184 Jungen. Allerdings blieben nur drei Minderjährige dauerhaft verschwunden: eine 13-Jährige aus St. Vit bei Wiedenbrück und zwei Jungen aus Wuppertal und Essen, sechs und acht Jahre alt. Das Mädchen war von zu Hause weggelaufen, der Junge aus Wuppertal vermutlich beim Spielen am Ufer der Wupper ertrunken. Nur im Fall des achtjährigen Klaus Jung ging die Kripo von einem »kriminellen Hintergrund« aus, er war letztmals am 31. März auf einer Kirmes in Essen gesehen worden. Erst vier Jahre später sollte sich das Schicksal des Jungen klären: Er war dem vierfachen Kindermörder Jürgen Bartsch in die Hände gefallen und wie die übrigen Opfer in einem ehemaligen Luftschutzstollen gefoltert und anschließend getötet worden.
Die extrem ungewöhnliche zeitliche und örtliche Häufung der an sich sehr seltenen Sexualmorde an Kindern provozierte Fragen, die Bevölkerung verlangte Aufklärung. Die Kriminalisten gaben sich alle Mühe, aber ihre Antworten klangen wenig überzeugend. Kriminaloberrat Hans Kiehne, Leiter der Mordkommission, die Ingo Kappes jagte, erklärte lapidar: »Sexualdelikte häufen sich eben zu bestimmten Jahreszeiten.« Der Chef der Essener Todesermittler, die die »scheußlichen Verbrechen« an Ilona Dönges und Monika Reimer aufzuklären versuchten, ergänzte: »Für das fast gleichzeitige Losschlagen dieser verschiedenen Täter haben wir keine Erklärung. Vielleicht spielt die Witterung eine Rolle. Die Mädchen sind leicht angezogen. Das kann aufreizen.« Und Dr. Wehner, der Leiter der Düsseldorfer Kripo, hielt alles für »einen Zufall«, gab sich indes überzeugt, eine »Kindermord-Psychose« festgestellt zu haben, die »schleunigst abgebaut« werden müsse. Nur wie, das verriet er nicht.
Wesentlich optimistischer äußerte sich der Vizepräsident der Deutschen Kriminologischen Gesellschaft. Der Deutschen Presse-Agentur verriet er wohlmeinend, wie den Unholden beizukommen sei, und richtete einen flammenden Appell an alle Bürger: »Achtet auf Eure Mitmenschen, auf Schul- und Arbeitskameraden, Freunde und Gefährten. Abnormes Verhalten dem anderen Geschlecht gegenüber kann ein Zeichen dafür sein, dass Triebstörungen vorliegen.«
Zum Kummer der Kriminalpraktiker schalteten sich auch noch diverse Landespolitiker in den Kampf gegen die »Bestien« ein. Den Anfang machte der SPD-Landtagsabgeordnete Gustav Stapp. Als Bürgermeister der ebenfalls betroffenen Stadt Walsum schlug er vor: »Alle Kinder sollen unentgeltlich mit Bus und Bahn zur Schule fahren dürfen.« Der donnernde Applaus seiner Anhänger, vor allem aber potentieller Wähler war ihm gewiss.
Nun hatte jeder etwas zu sagen, die Erfolglosigkeit der Polizei wurde zum Zankapfel der Politik, ein sensibles Feld ohne Rücksicht auf (Gesichts-)Verluste als Wahlkampfthema – am 8. Juli musste das neue Landesparlament gewählt werden – missbraucht. Bisweilen wurde es polemisch. »Weite Kreise haben das Gefühl«, posaunte der FDP-Landesvorsitzende Willi Weyer, »dass zwar genügend Polizeibeamte zur Kontrolle der Parkuhren zur Verfügung stehen, jedoch zu wenige zur Verfolgung von Gewaltverbrechern.« Das ging an die Adresse des für solche Belange zuständigen CDU-Innenministers, der postwendend versicherte: »Die Kindermorde in den letzten Wochen haben die Polizei veranlasst, alle erdenklichen Maßnahmen zur Verhütung weiterer Verbrechen zu ergreifen.« Derweil stellten sich die Kripo-Chefs in Düsseldorf und Köln demonstrativ an die Seite ihres obersten Dienstherrn. »Wir haben die Dinge unter Kontrolle. Zu einer Angstpsychose besteht kein Anlass, zumal man mit Angst keinen Mörder fängt«, hieß es kurz und bündig. Und Bundesjustizminister Stammberger ließ es sich nicht nehmen, natürlich genau das zu tun, was Politiker bei derlei Gelegenheiten immer zu tun pflegen: Er forderte »härtere Strafen für Sittlichkeitsverbrecher«.
Aber »die Serie des Grauens« riss nicht ab. Am 22. Juni fuhren alle verfügbaren Streifenwagen der Schutzpolizei durch
Weitere Kostenlose Bücher