Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)
die Nuss in die Schale.« Im November 1962 war im Revisionsverfahren ein erneuter Schuldspruch ergangen, aber das Gericht hatte die Strafe auf sechs Jahre abgemildert. Niemand hatte ihm abnehmen wollen, dass er einen Mord gestanden hatte – nur um in einer Zelle Ruhe vor seinen Problemen zu finden.
Konrad Meckler stand jetzt vor der Schleuse, einige Formalitäten waren noch zu erledigen. Es war der 3. April 1965. Fünf Jahre seines Lebens hatte er absitzen müssen. Fünf verdammte Jahre! Oft war er der Verzweiflung nahe gewesen, hatte resignieren wollen. Jeder hielt ihn für einen »verdammten Mädchenmörder“. Da drinnen, aber auch da draußen. Das hatten sie ihn im Knast immer wieder spüren lassen, und in Freiheit würde er diesen Makel auch nicht loswerden. Er hatte sich selbst gebrandmarkt, zum Abschaum der Gesellschaft erklärt. Eine törichte Kurzschlusshandlung war ihm zum Verhängnis geworden.
Über all die Jahre hatte er sich vorstellen müssen, wie der Mörder Michaelas wohl aussah, wo er wohnen könnte, ob er verheiratet war, was der gerade tat, als er in der Not mit dem Gedanken spielte, seinem Leben ein Ende zu setzen. Dieses verdammte Schwein!
Nachdem er seine wenigen Habseligkeiten quittiert hatte, öffnete sich die Schleuse. Jetzt konnte er wieder eigene Entscheidungen treffen, das tun, wonach ihm gerade war. Endlich frei! Er atmete tief durch. Der gelernte Industriekaufmann hatte die Schmähungen und die Demütigungen und die Schläge und die Vergewaltigungen nur ertragen können, weil er noch mit dem Scheusal abrechnen musste, das für all seine Qualen mitverantwortlich war. Konrad Meckler hatte jetzt nur noch ein Ziel vor Augen: Ich will wissen, wer DU bist! Und dann wirst du reden!
23
An die Erfolglosigkeit der Polizei hatte er sich mittlerweile gerne gewöhnt. Mehrere Kinder und Jugendliche und eine junge Frau waren ihm zum Opfer gefallen, aber niemand hatte ihn verdächtigt – auch bei dem missglückten Überfall auf die junge Frau in Zwenkau nicht. Neun Jahre war er nun schon unbehelligt geblieben, seine Jagdstrategie hatte sich tatsächlich bewährt. Und die Angst, geschnappt zu werden, hatte ihre alles durchdringende Intensität eingebüßt. Aber er blieb vorsichtig.
Er war auch mit 31 Jahren kein Mensch, der sich gerne mitteilte. Sein auffälligstes Merkmal blieb seine Unauffälligkeit. Er wollte sich nicht von der Masse der Menschen abheben, sondern mit ihr verschmelzen. So wie ein Chamäleon durch das Anpassen der Hautfarbe an die jeweilige Umgebung seine Jäger zu täuschen sucht, so hatte er sich formal und sozial angeglichen – mitunter bis zur Unkenntlichkeit. Sein Ziel: Er wollte kein Aufsehen erregen, unbeachtet, vor allem aber unangetastet bleiben. Allerdings konnte diese nahezu vollständige soziale Mimikry sich nur ausbilden und verfestigen, weil niemand genauer hinsah.
Doch er litt jetzt auch unter seiner sozialen »Verpuppung«. Er wusste sehr wohl zwischen seiner mörderischen Passion und anderen Bedürfnissen zu unterscheiden. Er brauchte nicht erst durch seine Schwester Elisabeth daran erinnert zu werden, dass er »immer noch« Junggeselle war. Die Sehnsucht nach einer Frau, die ihm Gefühle der Geborgenheit und Wertschätzung vermitteln würde, ließ sich eben nicht dadurch besänftigen, dass er masturbierte oder dass er sich aufmachte, um eine Frau zu malträtieren und zu töten. Er konnte dieses Problem nicht gewaltsam lösen, und das machte es für ihn so schwer. Aber er war nicht bereit aufzugeben, alle Hoffnungen zu begraben. Es musste doch auch für ihn Mittel und Wege geben.
Ganz gegen seine Gewohnheit hatte er sie sich nach der Frühschicht besorgt, er war dem Rat Elisabeths gefolgt. Die Montagsausgabe der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) lag jetzt vor ihm auf dem Tisch. Er war neugierig – und aufgekratzt. Das nicht zu erschütternde Vertrauen in die Erfahrung seiner bereits verheirateten Schwester nährte die verlockende Vorstellung, es könnte klappen: Die muss es doch wissen!
Er schlug die Zeitung auf und begann zu blättern. Unsere Meinung, Der Sport, Lokaler Sport, Politische Umschau. Er las nur die Seitenüberschriften, daran wollte er sich orientieren. Stadtpost, Unsere Serie/Unser Roman, Heutzutage. Anhand der Schlagzeilen und der Bilder konnte er feststellen, dass er noch nicht das gefunden hatte, wonach er fieberhaft suchte. Er las weiter:
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