Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)
mutmaßlichen Mörders ein zweites Mal. Darüber hinaus war in jeder Duisburger Zeitung zu lesen: »Für die Aufklärung der Tat wird die Bevölkerung erneut um Mithilfe gebeten. Hierbei ist die Beantwortung folgender Fragen von besonderer Bedeutung: 1. Wer kennt eine Person, auf die die Beschreibung zutrifft, und die sich in verdächtiger Weise für die Insassen parkender Pkw interessiert? 2. Wer ist in der näheren Umgebung des Tatortes schon einmal in ähnlicher Weise belästigt worden? 3. Wer hat am Sonntag, dem 22. August 1965, zwischen 21 und 22.30 Uhr, am Tatort oder in der Nähe des Tatortes verdächtige Personen gesehen? 4. Wer kennt eine solche Person, die im Besitz eines feststehenden, beiderseitig geschliffenen Messers oder Stiletts mit etwa 3 bis 4 Zentimeter breiter Klinge ist? Hinweise nimmt jede Polizeidienststelle entgegen.«
Zwei Tage nach dem Überfall hatte er vom Tod des Mannes erfahren, der von ihm niedergestochen worden war – allerdings nicht aus der Zeitung, die er ohnehin nicht las, sondern von Arbeitskollegen aus seinem Wohnheim. Die Todesnachricht berührte ihn nicht, schließlich hatte er nichts anderes erwartet, und der Blödmann hätt‘ doch abhauen soll‘n. War der doch selber schuld. Ich musst’ den doch kaputtmachen, um an die Frau ranzukommen!
In helle Aufregung versetzte ihn indes ein Fahndungsplakat der Kripo, das eines Morgens in der Eingangshalle seines Wohnheims hing. Nachdem er festgestellt hatte, dass es sich um den Überfall am Freibad drehte, blieb er wie angewurzelt vor dem Aushang stehen. Er drehte sich mehrfach um. Er wollte nicht beobachtet werden. Denn er glaubte, wenn er zu lange vor dem Plakat stehen bleiben würde, könnte er auffallen. Als er sich unbeobachtet wähnte, begann er hektisch zu lesen. Insbesondere die Personenbeschreibung des Gesuchten überprüfte er auf Übereinstimmungen. Er musste das Geschriebene ein zweites Mal studieren, er war zu aufgeregt, um alles sofort verstehen zu können. Aber dann wurde ihm Angst und Bange. Es stimmte fast alles.
Spät in der Nacht schlich er in die Eingangshalle, nahm das Plakat ab, zerriss es und entsorgte die Schnipsel in einem Müllcontainer. Er wollte dadurch verhindern, dass die Mitbewohner des Heims wegen der Beschreibung des Täters ihn verdächtigen könnten.
In den nächsten Wochen verließ er sein Zimmer nur, wenn er zur Arbeit erscheinen musste. Freiwillig hatte er sich sogar zur Nachtschicht gemeldet, die ihm so zuwider war. Er wollte vermeiden, dass ihn tagsüber jemand sah – und als Mörder entlarven könnte. Immer wieder wurde im Ledigenheim über den Fall diskutiert, denn der Mord war in der näheren Umgebung, nur knapp zwei Kilometer entfernt geschehen. Manch einer vermutete den »Unhold« in den eigenen Reihen: »Sind doch alles Junggesellen hier. Dem einen oder anderen wär’ das glatt zuzutrauen.« Gemeint waren in erster Linie Gastarbeiter, denn in den Zeitungen war auch berichtet worden, der Täter sei »vermutlich Ausländer«. Anke Gladisch hatte bei der Kripo tatsächlich entsprechend ausgesagt.
Er äußerte sich zu all dem nicht, schwieg eisern. Jeden Tag verkroch er sich in seinem Zimmer, bastelte an seinen Elektrogeräten herum oder spielte mit seinen Kinderpuppen, um sich abzulenken. Als nach Wochen niemand gekommen war, um ihn zu holen, und auch die großsprecherischen Stimmen zu diesem Fall nahezu verstummten, konnte er durchatmen. Für die Zukunft nahm er sich vor, nur noch außerhalb Duisburgs nach Opfern zu suchen. Er wollte kein unnötiges Risiko mehr eingehen.
25
Ihm war nicht wohl bei dem Gedanken. Sechs Jahre hatte er in seinem Zimmer zugebracht, ohne auf jemanden Rücksicht nehmen zu müssen. Zum ersten Mal in seinem Leben war er nicht auf das Entgegenkommen seiner Eltern oder Geschwister angewiesen gewesen, die ihn immer dann aufgenommen hatten, wenn er in finanzielle Not geraten war. Dieses Zimmer war sein Refugium. Hier konnte er ungestört und unbeobachtet bleiben, die 24 Quadratmeter nach seinen Vorstellungen gestalten, seinen Bedürfnissen anpassen.
Und jetzt sollte alles anders werden – auf einmal, einfach so. Der Hausverwalter hatte angekündigt, dass er sich das Zimmer »ab sofort« mit einem Kollegen teilen müsse. Mannesmann hatte 50 Arbeiter neu eingestellt, die Junggesellen ohne feste Bleibe mussten im Wohnheim untergebracht werden. Das passte ihm nicht. Doch er
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