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Ich nannte ihn Krawatte

Ich nannte ihn Krawatte

Titel: Ich nannte ihn Krawatte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Michiko Flasar
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Hand in meiner.
    Freunde. Für immer und ewig.
    Mit einem Taschenmesser ritzten wir unsere Namen in die Rinde. Unser Freundschaftsbaum, verkündete Yukiko. Sie hatte einen roten Faden aus ihrer Rocktasche gezogen, band ihn um einen der Äste und verkündete weiter: Der rote Faden soll uns daran erinnern, dass wir aneinander gebunden sind. Da ich mich dir anvertraut habe, stehst du in meiner Schuld. Und da du versprochen hast, mich nicht zu verraten, stehe ich in deiner. Feierliches Einverständnis. Der Schatten wanderte weiter. Hoch über uns die Sonne, sie rieselte, spitze Nadeln, auf unsere Köpfe herab.

63
    Wir wurden neun. Dann zehn. Mit jedem Jahr, das verstrich, schärfte sich meine Wahrnehmung. Oder eigentlich trübte sie sich. Mein Glaube an die Märchen der Kindheit begann zu wanken, in dem Maße, wie ich sie in Frage stellte, und plötzlich sah ich aus Augen, die prüfen, aus Augen, die zweifeln, aus Augen, die gar nichts mehr sehen. Wie die Löcher in Yukikos Strümpfen, so war mein Blick ausgefranst. Am Ende stimmte es, was meine Eltern sagten. Ich hatte keine Ahnung, mit wem ich mich abgab, und auch wenn es mir weiterhin völlig egal war, ob der Umgang, der mich formte, ein guter oder ein schlechter war, fühlte ich dennoch eine zunehmende Wut darüber, dass mir Yukiko die Wahrheit über sich und ihre Herkunft vorenthielt.
    Woher kommst du, versuchte ich sie aus ihr herauszulocken. Wir saßen Rücken an Rücken und zupften Grashalme aus der Erde. Der rote Faden über uns war ausgebleicht. Sag mir, woher? Woher kommst du wirklich? Ihre Schulterndrückten sachte gegen meine. Du weißt doch. Was weiß ich? Ich kann’s dir nicht sagen. Aber warum nicht? Bebende Schulterblätter. Warum nicht? Knochiges Schweigen. Ich riss ein ganzes Grasbüschel aus der Erde und schleuderte es gegen die Tempelmauer. Bitte verzeih mir. Sie rückte ein Stück weit von mir ab. Kühler Spalt zwischen unseren Rücken, der Wind blies durch ihn hindurch. Gerne hätte ich ihr gesagt: Es ist gut. Ich verzeihe dir. Allein die Wut hielt mich zurück, ein wütender Schmerz.

64
    Am Tag darauf, ich hatte bei Miyajimas geläutet, steckte ihre Mutter wie üblich den Kopf heraus und krächzte: Sie kommt gleich. Die Tür ging zu, es roch nach Moder und Schimmel. Von drinnen hörte ich zuerst lautes Rufen, dann leises, immer leiser werdendes Zischeln. Was soll das heißen, du willst ihn nicht sehen? Was soll dieser Unsinn, von wegen, du schämst dich? Das Zischeln brach ab. Im Haus war es nun still, nur ein einzelner Schrei durchbrach diese Stille: Ich kann nicht mehr. Danach war es wieder still. Die Tür ging auf, es roch nach Zerfall. Die Mutter steckte den Kopf heraus: Wenn du ein anderes Mal. Vielleicht morgen. Vielleicht übermorgen. Meine Tochter, die Prinzessin, hat ihre Launen.
    Unzählig, all die anderen Male, die ich vor der Tür stand und läutete. Unzählig, all die anderen Male, die sie verschlossen blieb. Dahinter Yukiko, ein blinkender Stern. Sein heller Schein täuscht darüber hinweg, dass er längst erloschen ist. Die Augen der Nachbarn im Nacken, streckte ich mich vergeblich nach ihm aus. Ihr Gerede in den Ohren, musste ich einsehen, dass er Lichtjahre entfernt im Weltall trieb.Bei Miyajimas gibt es Hunde und Katzen zu essen. Bei Miyajimas werden Ameisen gegrillt. Bei Miyajimas trinkt man aus der Regentonne. Bei Miyajimas --- man zerriss sich die Mäuler über sie. In unserer Siedlung waren sie der wunde Punkt, an dem sich die Angst vor dem Anderen entzündete. Diese Angst: Man könnte so werden wie sie. Auch meine Eltern waren von ihr durchdrungen. Ich merkte es an ihrer offenkundigen Zufriedenheit, wenn ich mit hängendem Kopf beim Abendessen saß. Freunde kommen und gehen, hieß es. Besser, du findest dich damit ab. Irgendwann wirst du zurückblicken und begreifen, dass alles seinen Sinn und seine Ordnung hat. Hohle Phrasen, deren Hohlheit mich aushöhlte. Ich hatte ihnen nichts entgegenzusetzen. Mit dem letzten Rest Widerstand schrieb ich einen Brief. Liebe Yukiko, schrieb ich, lass uns noch einmal bei unserer Kiefer treffen. Ich will dich sehen und verstehen. Abschied nehmen. Dir sagen, dass. Ich radierte so lange an dieser Stelle, bis das Papier dünn und knittrig geworden war.

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    To want a love that can’t be true. Heftiges Zucken unter seinen Lidern. Ich hielt inne. Das Lied drehte sich

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