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Ich nannte ihn Krawatte

Ich nannte ihn Krawatte

Titel: Ich nannte ihn Krawatte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Michiko Flasar
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sehen. Er nahm einen tiefen Lungenzug. Dann lehnte er sich mit geschlossenen Augen zurück.
    Die Miyajimas waren unsere Nachbarn, fing ich an. Ihr Haus dicht neben unserem. Als kleiner Junge, ich war acht Jahre alt, würde ich öfters bei ihnen läuten und nach Yukiko fragen. In der Nachbarschaft war sie das einzige Kind in meinem Alter, und obwohl meine Eltern die ihren nicht leiden mochten, es hieß, man wüsste nicht, woher sie kämen, nahmen sie hin, dass wir zwei, immerhin Kinder, dann und wann vor dem Tempel, ein paar Blöcke weiter, miteinander spielten. Zu viele Wörter in einem Satz. Ich weiß. Zu viele Wörter, die nicht sagen können, wie unbefangen wir waren, sie und ich, in einer Welt, die Unterscheidungen trifft. Wo ein Wort schon genügt, um den einen vom anderen zu trennen.
    Ich würde läuten, sage ich. Yukikos Mutter würde den Kopf zur Tür herausstecken und krächzen: Sie kommt gleich. Die Tür würde wieder zu-, nach einigen Minuten wieder aufgehen. Ein muffiger Geruch, jedes Mal, wenn sie zu- und aufging, ein muffiger Geruch auch an Yukikos Kleidung. Sie trug eine Bluse, schmutzige Rüschen, einen Rock, der ihr zu groß war und den sie mit einer Paketschnur um die Hüften gebunden hatte. An einem ihrer Schuhe war der Schnürsenkel gerissen. Armes Mädchen, hörte ich die Leute, wenn wir an ihnen vorüberpreschten, schon übertönt von Yukikos Lachen: Heute wollen wir fliegen! Sie breiteteihre Arme aus und flog, vor mir her, bis zu der krummen Kiefer, um deren Stamm sie ihre Flügel schloss. Ein Ohr am Baum fiepte sie: Er ist gerade um einen Millimeter gewachsen.

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    Es waren bodenlose Tage. Ich meine, wirklich, wir flogen. Die Tempelgründe waren der Himmel, über den wir dahinschnellten. Wir pflückten Blumen und legten sie an unbekannten Gräbern nieder. Fingen Zikaden. Schmetterlinge. Libellen. Ließen sie frei, sobald wir sie gefangen hatten. Selber frei. Gossen uns, wenn es heiß war, Kübel voll Wasser über Arme und Beine. Von Mücken zerstochen. Jagten die Tempelkatze. Lauschten dem schläfrigen Mönchsgesang. Der war ein schwarzer Buckel. Manchmal drehte er sich nach uns um. Buddhas Kinder, rief er dann. Und warf einem jeden von uns ein Bonbon zu. So schmeckt Erleuchtung, so süß.
    Zu Hause sprach ich nur selten über Yukiko. Wenn man mich nach ihr befragte, fühlte ich, es geschah nicht aus Interesse, sondern aus einer gewissen Beunruhigung heraus. Man muss doch wissen, sagte Mutter, mit wem man sich abgibt. Und: Umgang formt, je nachdem, ob er gut oder schlecht ist. Mit derlei Sprüchen ließ sie mich laufen, und noch im Laufen war es, als ob mich jemand grob angefasst hätte. Ob Mutters Tonfall oder die Art und Weise, wie sie den Mund verzog, wenn die Rede auf Miyajimas kam, etwas verriet mir, dass es gefährlich war, zu viel preiszugeben. Und so behielt ich für mich, dass an Yukikos Jacke zwei Knöpfe fehlten, und so behielt ich für mich, dass mir das völlig egal war.
    Das Gefühl einer unbestimmten Bedrohung aber blieb. Ein kleiner Stachel in meiner Brust, er bohrte sich tiefer, und selbst der kleinste, allerkleinste Stachel reißt, wenn er tief genug sitzt, eine Wunde ins Fleisch. Man spürt ihn als einen Fremdkörper, der den eigenen, nach und nach, in die Knie zwingt.

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    Wie kommt es, dass du so anders bist, fragte ich einmal, wir saßen im Schatten der Kiefer. Yukikos Antwort, ein auswendig gelernter Satz: Weil ich von einem Stern gefallen bin.
    Von einem Stern? Ich hielt den Atem an.
    Sie nickte. Meine Eltern haben mich gefunden. In einer Schachtel am Fluss. Es hing ein Zettel um meinen Hals. Darauf stand, ich sei die Prinzessin der Leier, dazu bestimmt, fern der Heimat das Leben eines Erdenmenschen zu führen. Aber pst! Es ist ein Geheimnis. Wenn jemand davon erfährt, ich schwöre, ich löse mich in Sternenstaub auf.
    Und deine Kleidung? Ich war neugierig geworden.
    Sie kniff die Augen zusammen, dachte mit zusammengekniffenen Augen nach, riss sie auf und rief: Eine Verkleidung! Es ist alles eine Verkleidung! Damit ich mich nicht auflöse, trage ich die Kleidung einer Bettlerin. Die Enden der Paketschnur um den kleinen Finger gewickelt, setzte sie flüsternd hinzu: Manchmal habe ich Heimweh.
    Ich sagte: Ich auch.
    Heißt das, du glaubst mir?
    Ja. Ich glaube dir.
    Und versprichst du, mich nicht zu verraten?
    Ich gebe dir mein Ehrenwort.
    Ihre

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