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Ich nannte ihn Krawatte

Ich nannte ihn Krawatte

Titel: Ich nannte ihn Krawatte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Michiko Flasar
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knacksend um sich selbst. Am Nebentisch bestellte einer mit tonloser Stimme ein Whiskey Soda. Jemand hob den Vorhang hoch. Klatschender Regen. Der Vorhang fiel schwer über das Fenster zurück. Das Café, vom Licht des Tages entzaubert, war wieder im Zauber seiner Dunkelheit. Unfassbar, dass ich geglaubt hatte, drinnen wäre kein Platz zwischen den Menschen. Ein jeder saß versunken in seinem Sessel und hing seinen Gedanken nach. Ist sie gekommen, fragte er, die Augen noch immer geschlossen. Im dämmrigenQualm, der uns einhüllte, war seine Krawatte nicht länger rot und grau. Sie war grau, bloß grau.
    Ob sie gekommen ist, wiederholte er. Und als ich nichts erwiderte: Aber sie muss doch gekommen sein. Nicht wahr? Sie ist gekommen! Er sagte es mit einer Dringlichkeit, als ob nicht nur ich, sondern auch er, als ob wir beide auf ihr Kommen gewartet hätten. Als ob wir beide davon abhingen, dass sie käme.
    Ja, sagte ich schließlich. Yukiko ist gekommen.
    Also doch! Er atmete auf.
    Aber . . .
    . . .was?
    Sie war eine Fremde geworden. Nach knapp vier Monaten erkannte ich sie kaum wieder. Sie trug ihre Schuluniform, sah aus wie ein gewöhnliches Mädchen, wippender Pferdeschwanz. Verlegen blickte sie, auf mich zukommend, zur Seite. Trat vor mich hin, den Kopf gesenkt. Erst da erkannte ich sie an ihrem Geruch. Solche Befangenheit. Ich hatte Lust, ihr weh zu tun. Packte sie, elfjährige Hände, an den Schultern. Schüttelte sie. Schlug ihr, die es wortlos hinnahm, ins Gesicht. Warum schaust du mich nicht an? Ich hob ihr Kinn in die Höhe. Du sollst mich anschauen. Wenigstens das. Ich hasse dich. Hörst du? Ich hasse dich dafür, dass du mich zwingst, zu den anderen zu gehören. Zu jenen, die sagen. Endlich schaute sie mich an: Was sie sagen, ist wahr. Unsere Augen verhakt. Nah. Näher. Ich küsste sie. Fern. Ferner. Etwas war zu Ende gegangen. Ich stieß sie fort, und sie drehte sich weg. Ging, ein Vogel ohne Flügel, über den sandigen Vorplatz. Mit dir bin ich fertig, schrie ich. Endgültig fertig. Aber da war sie schon, weiße Socken, hinter dem Gebüsch verschwunden. Aus dem Tempel kam dröhnend das Herzsutra* .

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    Wie die Bitterkeit beschreiben? Ich war ein Glas, ein zerbrochenes, und der Raum, den ich einst umfasst hatte, war nun eins mit dem Raum rundherum. Öde Weite, in der ich mich verlief, unter den Füßen scharfe Messer. Mit jedem Schritt wurde es unwahrscheinlicher, irgendwann einmal irgendwo anzukommen.
    Eine Zeitlang vermied ich es, an Miyajimas vorüberzugehen. Statt nach rechts ging ich nach links, statt gerade ging ich Umwege, und wenn es sich nicht vermeiden ließ, wechselte ich die Straßenseite. Ich zitterte bei dem Gedanken, Yukiko könnte am Fenster stehen oder sie könnte, mir entgegen, die Straße hochkommen. Der Gedanke machte mich eng und klein. Sie könnte mit dem Finger auf mich zeigen, sie könnte mich an meine Schuld erinnern. Beinahe wünschte ich es mir. So eng und klein war ich, dass ich mir beinahe wünschte, sie wäre ein schlechterer Freund als ich.
    Sie war es aber nicht.
    Bald genug hatte ich vergessen, dass wir jemals Freunde gewesen waren, und so wie ich es vergaß, verlor das, was geschehen war, an Bedeutung. Meine Vergesslichkeit wusch den Geschmack ihrer Lippen von den meinen. Ich erinnerte mich nur mehr sehr schwach an den Moment, in dem sie einander berührt hatten. Ob es überhaupt ein Kuss gewesen war? Mir schien, es war eher ein Streifen gewesen. Aber selbst dieses vergaß ich.

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    Ich muss dazu sagen: Auszuweichen war eine einfache Übung.
    Obwohl Miyajimas unsere direkten Nachbarn waren, vergingen Jahre, ohne dass ich einem von ihnen begegnete. Der Vater, munkelte man, sei aufgrund einer Krankheit ans Bett gebunden, und die Mutter gehe nächtlichen Beschäftigungen nach. Was auch immer man damit meinte, jedenfalls sah man sie höchst selten und auch dann nur auf eiligen Beinen, wirres Haar in der Stirn, mit Säcken und Beuteln beladen. Mal munkelte man, sie schleppe verbotene Waren mit sich herum, mal wieder, sie sei verrückt, und dabei blieb es: Sie war verrückt. Auch wenn niemand behaupten konnte, sie gesehen zu haben, so konnte man doch wenigstens behaupten, dass ihr ihre Verrücktheit ins Gesicht geschrieben stand. So etwas sieht man, war der einmütige Schluss, so etwas sieht man, ohne hinzuschauen. Allein die Tatsache, dass Yukiko, das arme

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