Ich nannte ihn Krawatte
trotzdem oder deshalb bestimmen sie die eingetretene Wirklichkeit. Hätte ich damals irgendwie eingegriffen, wäre ich damals dazu in der Lage gewesen, ich säÃe heute nicht hier.
Ich überlieà es Yukiko, sich zu wehren. Doch sie tat nicht viel mehr, als einfach nur stillzustehen. Ein magischer Kreidekreis, er wurde enger und enger. Sie glich einem Tier, das sich tot gestellt hat. Ein Weilchen ging es gut. Dann aber hatten die Angreifer wieder die Oberhand gewonnen und sie lieÃen nicht ab, ehe sie nicht ihre schwächsten Stellen erschnüffelt hatten. Eine unvorsichtige Bewegung, und sie wussten, dorthinein mussten sie tiefer bohren. Das Spiel war kein Spiel mehr, es ging um Leben und Tod. Auf dem Weg nach Hause sah ich nicht, wie sie gegen eine Wand gedrängt wurde, im dunklen Durchgang sah ich nicht, wie man ihr mit Fäusten drohte, auf dem leeren Parkplatz sah ich nicht, wie ihr der Rock über die Knie gerutscht war. Ich ging weiter, ein stummer Zeuge, so hatte ich es gelernt.Würde ich eingreifen, damals war das noch ein Konjunktiv der Gegenwart, eine durchaus mögliche Möglichkeit, ich wäre der Nächste, der drankäme und das mit ziemlicher Sicherheit. Lieber nichts auf mich kommen lassen. Lieber da abbiegen, bevor jemand mich sieht.
70
Nun also wissen Sie.
Ja.
Und begreifen Sie es jetzt? Dass ich . . .
. . . du hast genug gesagt.
Nein, nicht genug. Es geht noch weiter.
Eine glühende Zigarettenspitze.
Heute machen Sie Ãberstunden.
Er hatte die Augen geöffnet und schien nach einem Punkt zu suchen, an dem er sie festmachen konnte. Blinzelnd blickte er zuerst auf mich, dann auf die Bar, wieder auf mich, dann auf den Boden. Knarrende Dielen, ein Betrunkener verirrte sich auf dem Weg zur Toilette. Hilflos blieb er zwischen den Tischen stehen, man hätte ihn am Arm nehmen müssen. So aber stand er nur da, ein Mahnmal ohne Sinn und Zweck. Es ist zu schade, lallte er, eine Trompete fiel ihm ins Wort.
Nein, nicht genug, sagte ich noch einmal. Aber meine Stimme klang rau. Vielleicht, dachte ich, sollte ich uns beiden das Ende ersparen. Nebenan sprach man über Fische und ob Fische wohl jemals schliefen. Vielleicht, dachte ich wieder, sollte ich es dabei bewenden lassen. Ein alter Spruch fiel mir ein: Es ist schwierig, jemanden aufzuwecken, der nicht schläft. Immer noch stand der Betrunkene mitten im Raum. Der Kellner lief um ihn herum, als ob erzur Einrichtung gehörte. Tatsächlich stand er nun ganz still, man hätte meinen können, er sei im Stehen eingeschlafen. Erst als ihn einer anstieÃ, schwankte er leicht hin und her, nur um gleich darauf wieder reglos zu stehen. Es dauerte Minuten, ehe er sich endlich in Bewegung setzte. Statt zur Toilette ging er jedoch an seinen Platz zurück und bestellte noch einen Schnaps.
Ich muss es zu Ende bringen, dachte ich, das ist das Mindeste.
Es geht noch weiter, hörte ich mich sagen.
71
Man fand sie, die Glieder verrenkt, auf dem Schulhof. Sie hatte sich aus dem fünften Stockwerk gestürzt. Man legte Blumen nieder, dort, wo sie hingestürzt war. Welkende Rosen, Nelken, Chrysanthemen. Auf einem der beigelegten Zettel stand: Wir trauern und schämen uns. Liebe Yukiko. Ich brachte keine Zeile zu Papier. Jeden Augenblick, dachte ich, müsste sie hinterm Gebüsch auftauchen und zurücklaufen, wippender Pferdeschwanz, mit dem Rücken voran. Zurück. Bis vor mich hin. Und noch weiter zurück. Zwischen den Gräbern spazieren. Ein weiÃes Blatt Papier in den Händen, rannte ich los. Vielleicht, vielleicht, es pochte hinter meinen Schläfen, würde sie dort, beim Tempel, auf mich warten. Und wir würden im Schatten der krummen Kiefer sitzen und nicht zulassen, dass der Wind zwischen uns hindurchführe.
Rote Fäden.
Atemlos blieb ich stehen.
Der Baum war über und über mit roten Fäden behängt. Unser Freundschaftsbaum, an jedem Ast hingen fünf Fäden,für jedes dahingegangene Jahr ein Faden. Ich keuchte. Wie war sie so hoch geklettert? Wie hatte sie die buschige Krone erreicht? Unsere Namen waren mit der Rinde emporgewachsen, der Sonne entgegen. Wie hatte sie wissen können, dass ich hierher kommen würde? Endlich sah und verstand ich sie. Und doch nicht ganz. Wer solch ein Kunstwerk erschafft, will bis zuletzt ein Geheimnis bewahren. Das Miauen der Tempelkatze. War es immer noch dieselbe? Ich nahm sie hoch und lieà zu, dass sie die Krallen
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