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Ich nannte ihn Krawatte

Ich nannte ihn Krawatte

Titel: Ich nannte ihn Krawatte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Michiko Flasar
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tut mir leid, möchte ich ihm sagen. Es tut mir leid, dass Sie an mich Ihre Zeit verschwendet haben.
    Er malte mit der Schuhspitze den Kreis im Kies nach, stellte seine Füße hinein und wieder heraus. Die Krawatte hatte er aufgeknüpft: Ich bekomme sonst keine Luft.

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    Wenn ich es mir recht überlege. Er zögerte. Eigentlich hätte ich lieber, dass der Tod ein Ende ist. Ein sauberer Schnitt. Mit nichts, was nachkommt. Man tritt ein in ein Vakuum. Keine Person mehr, keine Geschichte. Vollkommen erlöst. Oder wie ist das? Seine Stimme wie zerknülltes Papier. Du sollst wissen. Ich habe dir nicht die ganze Wahrheit gesagt. Sein Atem wurde flach. Als du mich fragtest, ob ich Kinder. Kyōko und ich. Wir haben. Wir hatten einen Sohn. Sein Name war. Ist Tsuyoshi. Er streifte sich die Krawatte vom Hals, warf sie hastig über die Lehne der Bank, atmete freier, fuhr fort. Seine Stimme wie zerknülltes Papier, das man sorgfältig auseinanderfaltet und, so gut es geht, wieder glattstreicht: Tsuyoshi. Der Starke.
    Wir sprechen selten über ihn. Und wenn, dann ist es Kyōko, die über ihn spricht, nicht ich. Sie kringelt sich, eine Katze, auf der Couch zusammen, vergräbt ihr Gesicht in einem Kissen und spricht da hinein. Immer dasselbe: Weißt du noch? Ich nannte ihn das Glühwürmchen. Sein Lächeln, so hell. Und: Weißt du noch? Der blaue Pullover, den ich für ihn gestrickt hatte. Wie ich Masche um Masche wieder aufgetrennt habe. Und: Weißt du noch? Der kleine Stoffhase am Kopfende seines Bettes. Die roten Bäckchen, wenn er schlief. Und: Weißt du noch? Diese Ähnlichkeit. Es istimmer dasselbe. Sie spricht von Dingen, an die ich mich nicht erinnern kann. Von Seifenblasen und Pusteblumen. Das einzige, woran ich mich erinnere, ist die Peinlichkeit, heiße Welle, die Peinlichkeit eines Teilnahmslosen, als man mir sagte: Ihr Sohn ist behindert. Er wird niemals wie andere sein. Das Gefühl, kein Gefühl: Hier liegt eine Verwechslung vor. Dieses Kind ist nicht meines, sondern das eines anderen. Es ist ein Irrtum, dieses Kind, ich weise es von mir.

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    Gute Neuigkeiten! Kyōko war mir entgegengelaufen.
    Das Schönste am Arbeiten . . .
    . . . ist das Nachhausekommen. Sie zog mich am Arm, durch den Flur und ins Wohnzimmer. Unser Haus. Sie hatte es eingerichtet, war gleich, nachdem wir es gekauft hatten, durch die Räume gegangen und hatte Maß genommen. Die Couch würde hierhin, der Fernseher dorthin kommen. Die Schneekugeln und Spieluhren auf die Kommode. Die tanzende Ballerina auf den Beistelltisch. An diese Wand würde die nackte Frau mit den Beinen im Sand, an jene andere der Matrose mit den schattigen Augen gehängt werden. Unser Zuhause. Das sind all diese Möbel und Gegenstände und Fotos. Vor allen Dingen aber: Kyōkos Bücher. Jedes Jahr einmal erklärt sie, wir brauchen ein neues Regal.
    Du musst raten. Sie hatte mich neben sich auf die Couch gezogen. Ich stellte mich dumm. Bestimmt gab es heute Kohl und Paprika im Angebot. Sie lachte. Meine Hand auf ihrem Bauch. Aha, ich hab’s! Erdbeeren und Pfirsiche! Ihr Bauch, von Lachen geschüttelt. Ich hörte Glück darin. Erwartung. Ein bisschen Angst. Und wieder Glück. Sch, sch, machte ich schließlich, du weckst es noch auf. Sie nunmehrflüsternd: Bald sind wir eine Familie. Das Wort war weich und zerging in meinem Mund. Eine Familie, wiederholte ich und zerging gleichsam mit dem Wort: Eine F-a-m-i-l-i-e.

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    Ich hatte ein Bild von dem Kind, das, noch unfertig, noch nicht da, noch namenlos in unserer Mitte wuchs. Ich hatte das Bild von einem Menschen, der auf die Welt kommen, darin groß werden, sie irgendwie besser machen würde. Es war ein typisches Bild. Typisch in seinen Besonderheiten. Mein Kind, unser Kind, würde ihm, keine Frage, gerecht werden. Es würde ihm entsprechen, es womöglich sogar übersteigen, über seine Grenzen hinweg, das Bild von ihm überhöhen. Ob so oder so, es wäre die Fortsetzung dessen, was ich und vor mir meine Väter begonnen hatten. Dieses Bild trug ich neun Monate lang, so wie Kyōko das Kind, unter meiner Brust. Und selbst Kei-chan* konnte meinem Glauben daran keinen Abbruch tun.
    Es war spät in der Nacht, als ich Kyōko, wenige Tage vor der Niederkunft, durch das Haus tappen hörte. Ich fand sie, runder Bauch, vor dem Wandschrank im Kinderzimmer, um sie herum bunte Häubchen und Jäckchen und

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