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Ich nannte ihn Krawatte

Ich nannte ihn Krawatte

Titel: Ich nannte ihn Krawatte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Michiko Flasar
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Söckchen.
    Kannst du nicht schlafen? Ich trat an sie heran.
    Nein. Sie wandte sich ab. Den Mond im Rücken. Ich habe geträumt. Sie sprach, als ob sie immer noch träumen würde. Ich habe von Kei-chan geträumt.
    Wer ist Kei-chan?
    Das Mädchen mit dem Feuermal. Man erzählte sich, ihr Gesicht sei zur Hälfte, von der Stirn bis zum Nacken, mit einem roten Mal, rot wie das Feuer, bedeckt. Man erzähltesich hinter vorgehaltener Hand. Ihre Eltern, sich des Geredes wohl bewusst, hielten sie tagsüber versteckt. Nur wenn es dunkel war, nahmen sie sie mit nach draußen. Ihr Vater würde sie auf seinen Schultern tragen und ihr die Straßen zeigen, in denen wir spielten. Ihre Mutter würde singend nebenher laufen. Man erzählte sich mit gesenkten Stimmen. Sie würden zu dritt durch die Nacht spazieren und dem Licht der Straßenlaternen ausweichen. Und wenn ihnen jemand entgegenkam, würden sie sich ins Gebüsch schlagen, sich gegen eine Wand stellen oder mit eingezogenen Köpfen davoneilen. Als wir noch in der Nachbarschaft lebten, ich war sieben, vielleicht acht Jahre alt, kam ich des Öfteren an ihrem Haus vorbei. Blinde Fenster, manchmal bewegten sich die Vorhänge. Ich bildete mir ein, Kei-chan hätte mir zugewunken. Wie einsam, fragte ich mich, musste sie sein. Ich hätte gerne den Mut gehabt zurückzuwinken. Merkwürdig. Nach all diesen Jahren von ihr zu träumen. Ich habe schon lange nicht mehr an sie gedacht. Im Traum war es sie, die mich fragte: Wie einsam musst du sein? Ich sagte: Sehr. Ohne dich bin ich sehr einsam.
    Bloß ein Traum. Du hast geträumt. Ich hockte mich neben Kyōko auf den kalten Boden und legte eines der Jäckchen zusammen, nicht größer als meine Hand.
    Nicht wahr? Kyōko war plötzlich hellwach. Wir würden unser Kind auch liebhaben, wenn es –
    â€“ so ein Unsinn! Ich ließ sie nicht ausreden.
    Und als wir im Bett lagen: Es ist ein Junge. Der Arzt hat mir gesagt, dass es ein Junge ist.
    Ich schon halb schlafend: Er soll Tsuyoshi heißen.

84
    Die Geburt, ich war nicht dabei, soll einfach gewesen sein. Ich kaufte Blumen auf dem Weg ins Krankenhaus. Ihr zarter Duft in meiner Nase vermischte sich mit dem leicht säuerlichen Geruch, den ich aus dem Haus des Lehrers kannte. Ich dachte an ihn, während ich die Treppen hochlief, eine Melodie auf den Lippen, die Türen aufstieß. Ich dachte an ihn, während ich durch die Gänge, an Zimmern und Betten, an unzähligen Namensschildern vorbei, endlich Ōhara Kyōko las, eintrat und noch beim Eintreten fühlte, dass mein Leben von nun an eine entscheidende Wende genommen hatte. Es war ein siegreiches Gefühl. Mit einem Schlag wurde es ein geschlagenes. Man will ihn nicht zu mir bringen. Kyōkos erster Satz, nachdem ich eingetreten war. Ich weiß nicht warum. Aber man will ihn nicht zu mir bringen. Etwas stimmt nicht. Ich weiß nicht warum. Ihre Hand umklammerte die meine. Tetsu, bitte. Ich will, dass man ihn zu mir bringt. Und wenn er keine Augen hätte und keinen Mund. Ganz egal. Ich muss ihn sehen. Die Blumen, irgendwie welk, irgendwie tot, etwas wurde hart in mir. Ich befreite mich aus Kyōkos Griff, ihre Hand fiel zurück auf die Decke. Was redest du da? Es ist alles in Ordnung. Ich habe ein Bild. Hörst du? Ich habe tausende Bilder. Ich schrie es: Tausende! Hörst du? Tausende! Wir spielen Baseball zusammen, Tsuyoshi und ich, er ist der Schlagmann, ich der Fänger. Du nähst ihm eine Uniform, schwarz und orange wie die der Giants. Er interessiert sich für Geschichte. Nein. Für Geographie. Ich kaufe ihm einen Globus, und wir reisen mit unseren Fingern einmal um die Welt. Wir prügeln uns. Zum Spaß, versteht sich. Wir prügeln uns wie in den Filmen, die wir nachts, wenn du schon schläfst, zusammen schauen. Er ist stärker als ich. Er hat eine starke Faust. Er schlägt mir damit in den Bauch, und ich denke: Aus ihm wird ein starkerMann. Er studiert Medizin. Nein. Technik. Nein. Wirtschaft. Er ist der beste seines Jahrgangs, und ich bin stolz auf ihn. Ich sage es nicht. Aber ich bin stolz. Ich streite es ab. Ich bin so stolz, dass ich es abstreite. Solcherart ist mein Stolz, dass ich so tue, als ob das gar nichts sei: Dass er der beste nicht nur seines Jahrgangs, der beste Sohn, überhaupt, der beste Mann ist, dem ich jemals in meinem Leben begegnet bin.
    Der Arzt.
    Rasiertes Kinn.
    Kleine Augen hinter dicken

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