Ich nannte ihn Krawatte
und war nur mehr ein Niesel.
Morgen wieder?, fragte ich.
Auf jeden Fall.
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In der Stadt sieht man keine Sterne. Ihre Aura, zu hell, erleuchtet den Himmel, nicht umgekehrt, und statt der Leier sieht man höchstens ein Flugzeug, das gefährlich nah über den Häusern dahin gleitet.
Was hatte ich preisgegeben?
Ich war nun nicht mehr nur ein Bild, ich war eines, das ein anderes in sich barg. Das Bild eines Mädchens. Ein Ohr am Stamm. Ich hatte den Tempelmönch darum gebeten, die roten Fäden nicht zu entfernen. Er war einverstanden gewesen, ohne meine Geschichte zu kennen. Wirklich sonderbar. Das war alles, was er dazu gesagt hatte. Hin und wieder war ich vorbeigekommen und hatte unter dem Baum gesessen. Mit der Zeit aber hatten die Fäden an Farbe verloren und waren, bis auf zwei, von den Ãsten abgefallen. Wirklich sonderbar, hatte der Mönch in genau demselben Tonfall wiederholt, und als auch die letzten zwei abgefallen waren: Das Leben.
Die krumme Kiefer gibt es noch. Jene Nacht verbrachte ich, den Kragen hochgeschlagen, unter ihrem Dach. Es machte mir nichts aus, dass es von den Nadeln auf mich heruntertropfte. Vielmehr empfand ich es als tröstlich, derart ausgesetzt zu sein, mit klammen Fingern, die dunklen Stunden auszusitzen. Die Eltern würden wohl auf mich warten, auf das Geräusch meiner Schritte im Flur, sich vielleicht sorgen, wo ich sei, vielleicht sogar den Hörer von der Gabel nehmen und 110* wählen, sich plötzlich schämen und wieder auflegen. Denn wie sollte man ein Gespenst zurAnzeige bringen? Wie sollte man erklären, dass einer verschwunden ist, der ohnehin schon verschwunden war? Wie beschreiben, dass man ihn vermisst, obwohl er schon lange davor abgängig gewesen war? Und doch wünschte ich mir, sobald der Morgen graute, nichts anderes als eben das: Dass man mich suchte und fände. Mich an den Schultern packte, mir ins Gesicht schlüge und fragte: Wie ist es dazu gekommen, dass wir uns dermaÃen verfehlten? Mich dann in den Arm nähme und sagte: Lass uns noch einmal von vorne beginnen.
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Dem Einfall der Sonne nach zu schlieÃen, war es kurz nach acht Uhr. Die Wolken hatten sich über Nacht gegen Westen verzogen. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich meinen Schirm im Café vergessen hatte. Er war der Beweis für den gestrigen Tag. Hätte ich ihn nicht liegengelassen, ich wäre in Zweifel geraten, ob nicht alles ein Traum gewesen war. So aber wusste ich: Das trockene Gefühl im Mund kam vom vielen Erzählen, der abgestandene Geruch in den Haaren vom vielen Rauch. Beides hing miteinander zusammen. So wie ich mit ihm. Als ich aufstand und mir die feuchte Erde von den Beinen klopfte, dachte ich: Und wenn er heute vor den Zug spränge. Ich hätte die Gewissheit, er würde mich mit sich, auf summenden Gleisen, in den Tod hineinschleifen. Die Streifen seiner Krawatte quer vor den Augen, machte ich mich auf den Weg.
Guten Morgen.
Er überholte mich.
Schlecht geschlafen?
Ich folgte ihm nach. Unsere Schritte im Gleichklang. Ab und an blieb er stehen. Suchte etwas. Fand es. Ging, eine Zigarette im Mundwinkel, langsamer weiter. Blieb wieder stehen. Ging weiter. So langsam, dass wir irgendwann nicht mehr gingen, sondern, zwei Flaneure inmitten von laufenden Leuten, müÃig dahinschlenderten. Im Glas eines Schaufensters sah ich unsere Gestalten, aus dem Takt der Welt gefallen. Nach dem Regen ist das Licht stets am klarsten. Er sprach über die Schulter zu mir hin. Da war der Park. Wir erreichten unsere Bank. Schön, wieder hier zu sein. Er streckte die Beine aus.
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Glaubst du, es gibt ein Leben danach?
Die Frage kam hastig.
Ich meine: Yukiko. Gestern Nacht, ich lag schon im Bett, habe ich mich gefragt, ob sie wohl wiedergeboren wurde. Sagen wir, in Mexiko. Sie wäre jetzt zwei, drei Jahre alt. Sie spricht schon. Spanisch. Sie lernt schnell. Kaum sagt man ihr ein Wort, plappert sie es nach. Sie hat zwei Brüder. Jorge und Fernando. Man kann sie beim Spielen sehen. Die beiden Ãlteren haben acht, dass ihre Schwester keine Bauklötze verschluckt. Auch sie Wiedergeborene. Ich meine, die Vorstellung, Yukiko könnte jetzt, mit all dem Wissen, das bereits in ihr ist, in einem Haus in Puebla, in einem Zimmer, in einem Körper, der Isabella heiÃt, die Vorstellung, sie könnte, während sie Klotz auf Klotz übereinanderschichtet, kurz daraufkommen, dass sie schon einmal hier gewesen ist. Sie kennt die
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