Ich nannte ihn Krawatte
sehr leise: Genau deshalb wird aus dir kein Klavierspieler werden. Du hörst nichts. Du hast keine Ohren. Du hörst nur das, was oben hörbar, nicht das, was darunter liegt. Pack dich zusammen. Der Unterricht ist vorbei. Sag deinen Eltern, du bist der unbegabteste Schüler, den ich je hatte. Es ist eine Verschwendung, dir beibringen zu wollen, was Musik ist. Wer in einem Lachen nichts anderes als ein Lachen hört, der ist taub, ich sage, tauber noch als taub. Ich lache für sie. Hörst du? Er lachte. Ich lache, weil ich weiÃ, sie liebt es, wenn ich lache. Ich lege Traurigkeit hinein. Hörst du? Er lachte erneut. Sie soll wissen, ich bin traurig, dass sie geht. Ich lege Dankbarkeit hinein. Hörst du? Er kam aus dem Lachen nicht heraus. Ich lege alles hinein, was ich für sie fühle. Sie weià das. Sie hört es. Mein Lachen soll sie begleiten. Er war lachend zu Boden gesunken. Ich, zu ihm hin, schon gar nicht mehr wütend. Und da sah ich, er weinte. Seine Wangen von Tränen überströmt, weinte und lachte er, beides zugleich.
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Der Lehrer hat Recht behalten. Aus mir wurde kein Pianist. Dennoch blieb ich, ein Jahr lang, sein Schüler. Die meisten Stunden verbrachte ich damit, ihm zuzuhören. Mozart. Bach. Schumann. Chopin. Dazwischen würde ich beschreiben müssen, was und wie ich es gehört hatte. Ich entwickelte, wie er sagte, ein fühlendes Ohr. Sein Lieblingswort: Kanjou* . Er verwendete es in nahezu jedem Satz.
Kurz vor dem Tod seiner Frau, es ging ihr hörbar schlecht, bat ich ihn, mir einen Walzer vorzuspielen, doch gerade, als er damit anfangen wollte, kam aus dem Zimmer, hinter der halb offenen Tür, ein schrecklich aufgelöster, in seiner Aufgelöstheit kaum mehr menschlicher Husten. Der Lehrer, mit eingefallenen Schultern, legte die Finger auf die Tasten und begann langsam, im Rhythmus des Hustens, zu spielen. Er überspielte ihn nicht. Er spielte mit ihm. Er spielte so, wie seine Frau hustete. Es gibt keine Aufnahme davon, leider. Obwohl. Ich weià nicht, ob sich solches Spiel überhaupt aufnehmen lässt. Nachdem er fertig war, sagte er: Wenn es irgendetwas für dich zu lernen gibt, dann nur, dass du dich nicht schämen sollst. Schäm dich nur ja nicht dafür, ein Mensch mit Gefühlen zu sein. Egal, was es ist, fühl es innig und tief. Fühl es noch ein bisschen inniger, fühl es noch ein bisschen tiefer. Fühl es für dich. Fühl es für den anderen. Und dann: Lass es gehen.
Seine Frau habe ich erst bei der Totenfeier gesehen. Im weiÃen Kimono, den Kopf gegen Norden gebettet, lag sie in einem mit duftenden Lilien bedeckten Sarg. Er davor. Weder lachend noch weinend. In der hintersten Reihe flüsterte einer: Wie herzlos. Dieser Mann ist aus Stein. Ich jedoch wusste es besser: In seiner unbewegten Miene, nur bewegt von seinem Atem, las ich, wie er in seine eigeneStille hinein hörte und sich dort mit der Stille seiner dahingegangenen Frau verband. Es war, als ob er ihr nachlauschte, ihrem sich leise entfernenden Schritt.
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Haben Sie den Lehrer danach wiedergesehen? Ich unterdrückte das Zittern in meiner Stimme.
Ja, ich habe ihn noch einige Male besucht. Meine Eltern freilich waren enttäuscht, dass er mir nicht mehr beigebracht hatte, als zuzuhören. Sie fanden, er hätte sie um mein verborgenes Talent betrogen, und bereuten es noch Jahre später, mich zu ihm hinaufgeschickt zu haben. Der Lehrer, so ihre Meinung, hatte jedwedes Musische in mir auf Lebenszeit zunichte gemacht. Und daran hielten sie fest. Fast waren sie erleichtert, als er, bald nach dem Tod seiner Frau, starb, fast erleichtert, ihre Hoffnung nun endlich begraben zu können.
Das Haus am Hügel jedenfalls steht noch. Ich war mit KyÅko einmal dort. Durch die mit Brettern vernagelten Fenster konnten wir das Klavier erkennen, darauf ein Notenblatt, verstaubt. Die Tür zum Zimmer der Frau stand weit offen, doch durch die Ritzen sahen wir nicht viel mehr als ein schmales Bett. Wir setzten uns auf eine der Stufen, die in den Garten führten, und horchten lange dem Wind zu, wie er durch die Bäume rauschte. Ich höre ihn spielen, sagte KyÅko und zeigte auf die sich biegenden Ãste. Ihr Finger im Himmel: Ich höre sie alle, die dort oben sind und spielen.
Wie dem auch sei.
Der Grund, warum ich dem Lehrer gerne wiederbegegnen würde, ist, weil ich ihm gestehen möchte, dass ich einschlechter Schüler war. Es
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