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Ich nannte ihn Krawatte

Ich nannte ihn Krawatte

Titel: Ich nannte ihn Krawatte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Michiko Flasar
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Sonne, die durch die Jalousien herein auf ihre spielenden Hände fällt. Sie kennt das Rufen ihrer Mutter. Es ist ein Wiedererkennen. Mit dieser Vorstellung bin icheingeschlafen. Dass wir, wiedergeboren, hier sind, um etwas wiederzuerkennen. Eine betörende Vorstellung. Glaubst du nicht? Du könntest ihr begegnen. Eines Tages. In Mexiko. Oder sonstwo. In einem aus der Zeit gewürfelten Moment berührt ihr Ärmel den deinen und es wäre zu schade, diesen einen Moment zu versäumen. Ein Verlust, durch nichts auszugleichen. Und weiter noch: Mit uns könnte es dasselbe sein. Ich meine. Heute am Bahnsteig, umgeben von so vielen Menschen, habe ich mich gefragt, ob mir nicht einer von ihnen fehlen würde, wenn er nicht da wäre, und dann: Ob nicht auch ich ihm fehlen würde, wenn ich nicht da wäre. Ob wir nicht alle irgendwie da sind, um einander zu berühren. Als schließlich der Zug einfuhr und ich mein Spiegelbild in seinen Fenstern und in den dahinter schlafenden Gesichtern vorbeirollen sah, war das keine Frage, vielmehr eine Einsicht: Wir müssen, ein jeder von uns, miteinander verwandt sein.

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    Wenn ich es mir aussuchen dürfte. Er malte mit der Schuhspitze einen Kreis in den Kies. Es gäbe zwei Menschen, denen ich gerne wiederbegegnen würde. Erlaubst du? Ein Räuspern, er kratzte sich am Kopf. Zwei Menschen, von denen ich gerne im Vorübergehen gestreift werden würde.
    Der eine ist mein Lehrer. Watanabe-Sensei* . Ich nannte ihn schlicht den Lehrer. Als ich zehn Jahre alt war, hatten es sich meine Eltern in den Kopf gesetzt, dass ich Klavierstunden nehmen sollte. Sie hofften, in mir wäre ein verborgenes Talent. In Hemd und Hose gesteckt und eine lächerliche, quälend lächerliche Krawatte um den Hals, ich trug schon damals solche Sachen, schickten sie mich vollerHoffnung, ich würde als Genie wiederkehren, hinauf zum Lehrer. Ich sage hinauf. Denn das Haus des Lehrers stand etwas abseits auf einem Hügel, und man musste eine ungepflasterte Straße hochlaufen, durch einen dichten Wald. Der Lehrer lebte dort, über der Stadt und ihrem Dunst, mit seiner lungenkranken Frau. Die reinere Luft, hieß es unten bei den Leuten, sollte ihr guttun. Es war ein großes Haus. Wenn man es betrat, hatte man den Eindruck, es würde einen einatmen. Das Licht fiel je nach Tageszeit einmal durch dieses, dann wieder durch jenes Fenster. Zu jeder Stunde war das Haus des Lehrers von Licht durchflutet.
    Aber da war noch etwas. Ein leicht säuerlicher Geruch. Wie in einem Krankenhaus. Ich erinnere mich. Der Lehrer lachte: So riecht es, wenn jemand stirbt. Er deutete auf eine Tür, die halb offen stand. Meine Frau, dröhnendes Lachen, sie liegt im Sterben. Es ging mir durch Mark und Bein. Zeit ist kostbar, lachte er weiter. Nun lass uns mal sehen, was du kannst. Ich klimperte lustlos die Tonleitern rauf und runter. Der Lehrer, den Blick streng auf meine Hände gerichtet: Was ist das? Du spielst ja, als ob du kein Leben in dir hättest! Selbst ein Toter hat mehr Gefühl als du! Wieder lachte er. Ich dachte: Wie herzlos. Dieser Mann ist aus Stein. Wie ist es möglich, dass er lacht, während dort seine Frau. Spricht von Gefühl und hat selbst nicht das geringste. Ich dachte es mit einer natürlichen, ja selbstverständlichen, sich selbst nicht in Frage stellenden Verachtung.

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    Einmal, es hatte geläutet, der Lehrer war zum Eingang gelaufen, hatte ich, am Klavier sitzend, eine Fliege totgeklatscht. Ich war gerade dabei, sie zu zerlegen, die Beinchenzuerst, als er, zurückgekommen, auf einmal hinter mir, einen Schrei losließ, so peinvoll, ich meinte, er hätte sich grob verletzt. Er stieß mich vom Hocker hinunter. Klappte den Klavierdeckel zu. Schrie: Was fällt dir ein, dir Knirps, in meinem Haus ein unschuldiges Tier umzubringen. Steif wie ein Stock stand ich vor ihm. Erschrocken, da sein Gesicht zerrissen war. Ich fühlte eine aufkeimende Wut gegen ihn, der, immer noch schreiend, auf und ab lief, mir Vorhaltungen machte wegen einer Lappalie. Er rang nach Luft, ich nutzte die Pause. Mit vor Wut zitternden Lippen sagte ich: Sie sind es doch, der lacht, wenn Ihre Frau drüben hustet. Unheimliche Stille. Er war mitten in seiner Bewegung eingefroren. Schaute mich an, endlich, nach, wie mir schien, einer Ewigkeit. Löste sich, endlich, aus einer, wie mir schien, ewigen Starre. Ging einen Schritt auf mich zu. Hielt inne. Sagte leise,

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