Ich pfeife auf den Tod!: Wie mich der Fußball fast das Leben kostete (German Edition)
»Rafati – ein Simulant? In Goslar auf Shoppingtour.« Ich hatte Angst, dass die Zeitungen wieder unwahre Dinge über mich schreiben würden. Immer wenn in der Zeitung stand, dass es mir besser gehen würde, ging es mir komischerweise augenblicklich sehr viel schlechter. Heute kann ich selbst darüber lachen, ein Lachen aber, das mir im Halse stecken bleibt, denn damals lösten selbst kleinste Ereignisse wie dieses nächtelang unzählige Ängste in mir aus – daraus folgend die Sehnsucht zu sterben. Das waren aber eben die Gefühlskurven meiner Depression, in denen ich hin und her geschleudert wurde. Mein Flugzeug war noch immer in der Gewitter front – aber über den Wolken musste der Himmel schon viel blauer sein.
Als nächste Hausaufgabe sollte ich alle für mich kritischen Orte auflisten und sie nach einer Art »Hitparade des Schreckens« sortieren. Neben dem Anstoßkreis war für mich die ultimative Krisenzone der Hauptbahnhof in Hannover, ein Ort, an dem ich mich nie wieder in meinem Leben aufhalten wollte. Hier war die Hauptfiliale meines Arbeitsgebers, viele Kollegen und auch Fußballfans, Passanten, die mich immer wieder erkannten und wegen Autogrammen oder Fotos ansprachen, und ich hätte so gut wie keine Chance gehabt, unerkannt zu bleiben. Somit war dieser Bereich auf der Skala der unangenehmen Orte mit 100 Punkten an der Spitze. Keine zehn Pferde würden mich dorthin bringen. Doch mein Therapeut sagte lächelnd, dass wir am Ende der Therapie genau dort unseren Abschlusstest absolvieren würden – einen Spaziergang rund um den Kröpcke am Hauptbahnhof. Ich dachte, das wäre ein Scherz, aber es sollte wirklich am letzten Tag so kommen.
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Wir hatten beschlossen, die Silvesternacht bei meinen Schwiegereltern zu verbringen. Als wir am 31. Dezember dort eintrafen, war ich gerade wieder in einem seelischen Tiefdruckgebiet und ich konnte mich an den fröhlichen Vorbereitungen für den Silvesterabend nicht beteiligen. Der anstehende Jahreswechsel bedeutete für mich nicht den Aufbruch in eine neue Zukunft – sondern lähmende Rückschau in ein Jahr, das meinen Untergang eingeleitet hatte. Meine Wut gegen die Menschen, die ich verantwortlich machte für meinen Zustand, hatte ich aufgebraucht. Ich versank wie die Titanic in einem kalten Meer aus Selbstvorwürfen, Scham und Resignation und ich zog alle mit in die Tiefe, die sich auf diesen schönen Abend gefreut hatten. Ich verfluchte das vergangene Jahr mit allem, was ich erlebt hatte, und weigerte mich angstvoll, das neue zu begrüßen. Wir gingen um 23 Uhr, noch vor dem Neujahrsbeginn, ins Bett. Ich wollte diesen Jahreswechsel mit einer meiner inzwischen geliebten Schlafpillen einfach auslöschen. Ich klammerte mich gedanklich an die Vision, dass ich am Tag nach der Silvesternacht im Licht einer goldenen Sonne aufwachen und das neue Jahr die ersehnte Veränderung in mein Leben bringen würde. Somit war die Erwartungshaltung an diesem 1. Januar 2012 sehr hoch gesteckt. Und das konnte nur scheitern.
Der erste Morgen des neuen Jahres war genauso grau, kalt, windig und verregnet wie die Nacht des vergangenen Jahres. Wie immer hatte ich wenig geschlafen und der Neujahrsmorgen begann wie jeder andere Tag zuvor. Das Ganze erschien mir wie ein neuer Trick einer unbekannten Macht, um meine ganzen Hoffnungen und die Sehnsucht nach einer Änderung in meinem Leben zu verhöhnen.
Ich lag in meinem ganzen Elend, fürchtete mich davor, dass alles so weitergehen werde wie gehabt, und starrte an die Wand auf den mumifizierten Körper einer zerdrückten Mücke. Der Punkt faszinierte mich, er war der Fixpunkt in meinem Gedankenkarussell, das sich um immer neue Vorwürfe, Gefühle der Scham, Schübe von Verzweiflung und Resignation drehte, bis ich nur noch bunte Lichtblitze sah. Das hier war mein persönliches Neujahrsfeuerwerk. Immer schneller drehte ich mich der Auflösung entgegen, einer Art Kernschmelze in meinem Kopf. Bis eine innere Warnsirene mich aus dem Starren wegriss. Ich hörte eindringlich die Stimme von Dr. Hettich, der mir immer gesagt hatte: »Sie dürfen weinen, toben, schreien – das alles ist angemessen und ungefährlich, es ist sogar gut, ihre Gefühle herauszulassen. Aber starren Sie nie, hören Sie, nie auf einen Punkt, lassen Sie das niemals zu.« Ich hatte diese Warnung nicht vergessen, denn im Kölner Hotelzimmer hatte die blaue Digitaluhr mich magisch angezogen, bis ich nicht mehr wusste, was ich tat. Panikartig wurde mir bewusst, wie
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