Ich pfeife auf den Tod!: Wie mich der Fußball fast das Leben kostete (German Edition)
intensiv ich auf die Wand starrte, und versuchte krampfhaft meinen Blick zu lösen. Es kostete mich all meine Kraft.
Prost Neujahr! So also begann das Jahr 2012, auf das ich so viel Hoffnung gesetzt hatte. Ich wusste zwar inzwischen, dass eine Depression in Wellenbewegungen verläuft, dass Rückschläge ganz normal sind, ich dachte an das Bild von Dr. Hettich, nach dem man mit seinem Lebensflugzeug ab und zu auch durch Gewitterwolken fliegen muss, bevor die Sonne wieder scheint – aber all das war mir im Moment kein Trost mehr. Ich hatte Angst, dass mein Flugzeug in diesem nicht enden wollenden Unwetter abstürzen würde! Ich war deprimiert, weil sich die ganzen Anstrengungen der vergangenen zwei Wochen anscheinend als nutzlos erwiesen hatten. Von einem Neuanfang, einer Linderung gar, die Mut machen würde, war bis auf einzelne Momente wenig zu spüren. Ich war wieder da, wo ich vor dem Beginn der Therapie gestanden hatte – zumindest empfand ich es so.
Meine Familie spürte natürlich meine Panik – und wurde selbst panisch. Dennoch versuchten sie mich aufzumuntern, mir Ratschläge zu geben – Ratschläge, die ich nicht hören wollte. Im Chor und von allen Seiten prasselten die üblichen Trosthymnen auf mich ein: »Die Probleme sind es nicht wert, sich kaputtzumachen!« oder »Denk nicht an andere, sondern denk an dich selbst und an deine Gesundheit«. Von all diesen – wirklich gut und liebevoll gemeinten – Stärkungsversuchen blieb bei mir vor allem folgender Zuspruch besonders gut hängen: »Mach dich doch bitte nicht verrückt, das Leben ist so schön!« Ich war aber wieder so weit, verrückt zu werden, und fand das Leben überhaupt nicht schön an diesem 1. Januar, der nur das fortsetzte, was ich mit dem vergangenen Jahr hinter mir zu lassen gehofft hatte.
Am Abend fuhren wir zurück in die Klinik. Ich weiß noch, wie ich ganz still auf meinem Bett saß, nachdem Rouja gegangen war. Ich las noch einmal die SMS, die mir damals der Schiedsrichterkollege als Motivation geschickt hatte: «Denke nicht an HF (Herbert Fandel) und HK (Hellmut Krug), auch die kann man überleben, an sich selbst glauben. Viel Erfolg.« Ich dachte in dieser Nacht nur an Herbert Fandel und Hellmut Krug und mir rollten die Tränen über das Gesicht. Ja, ich hatte überlebt – aber was war aus mir geworden?
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Doch schon der nächste Tag sollte eine kleine positive Wende bringen. Nachdem ich im Therapiegespräch mit Dr. Hettich mein Silvester geschildert hatte und meiner Angst Ausdruck gab, dass ich die Geduld aller Beteiligten nun aufgebraucht und ihrer Liebe nicht mehr wert sei, dass ich überhaupt nichts mehr wert sei und nun alles verloren hätte, begleitete mich Rouja zurück auf mein Zimmer. Ich war völlig am Boden. Ich hatte die große Sorge, dass sich auch meine Lieben langsam nicht mehr gedulden könnten und mich aufgaben. Ich brauchte eine Pause. Ich stand wie gelähmt mitten im eiskalten Treppenhaus und wir schauten auf die meterhohe Beleuchtungsinstallation in der Klinikeinfahrt, die wie eine Distel aussah, deren Blüte aus Dutzenden orangefarbenen Alarmleuchten zusammengesetzt war. Wir schwiegen und starrten hilflos nur auf die blinkende Distel. Dann nahm mich Rouja in ihre Arme. Sie sagte: »Babak, dass du da bist und lebst, ist für mich das Wichtigste auf der ganzen Welt – und wenn es noch Jahre dauert, bis du wieder gesund bist – ich werde bei dir bleiben und diesen Weg mit dir zusammen gehen!« Sie würde mich lieben, so wie ich bin, mit all meiner Menschlichkeit, meiner Verletzlichkeit und nicht etwa wegen gesellschaftlichem Ansehen, Ruhm, Geld oder Macht. Sie erinnerte mich an den Abend unserer Verlobung in Dubai, an die Colaringe aus Blech und das Versprechen, das wir uns gegeben hatten. Das seien für sie die Momente im Leben, die wichtig sind. Kein Gold der Welt könne das aufwiegen.
Ich kann nicht beschreiben, welche Gefühlswelten sich in dieser Sekunde wieder für mich auftaten. Allein schon um dieser Frau meine Dankbarkeit zu zeigen, würde ich alles tun, um meinen Gesundungsprozess zu fördern. Mein Druck und meine Schamgefühle reduzierten sich in den kommenden Wochen immer weiter. Ich beschloss, mich von solchen Zwischentiefs nie wieder so existenziell bedrohen zu lassen. Mein Flugzeug flog weiter.
Patientenbericht Nr. 5, Babak Rafati, Dr. Hettich
In den ersten Wochen der stationären Behandlung kam es nur zu wenig Veränderung der depressiven Symptomatik. Herr Rafati erkannte
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