Ich pfeife auf den Tod!: Wie mich der Fußball fast das Leben kostete (German Edition)
Rouja atmete durch. Dann drehte sie den Zündschlüssel um und sie fuhren los. Doch sie kamen nicht weit.
Als sie um die Ecke in die Hauptstraße biegen wollten, blockierte der Polizeiwagen ihren Weg. Natürlich hatten die Beamten den Braten gerochen und rieten den beiden Frauen nochmals fürsorglich, wenn überhaupt, dann bitte nur mit dem Zug nach Köln zu fahren. Rouja versuchte die Beamten zu überzeugen, dass sie den ersten Schock bereits überwunden habe, und versprach, das Auto nur bis zum Bahnhof zu fahren und dort zu parken. Das war glatt gelogen, wie sie viel später erzählte: »Ob die Beamten wussten, dass ich sie in diesem Moment angeschwindelt habe, weiß ich nicht – sie wussten aber ganz sicher, sie würden mich nicht aufhalten können.«
Rouja fuhr nicht Richtung Innenstadt, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Zehn Minuten später war sie auf der Autobahn von Hannover Richtung Köln. Sie sei wie in Trance gefahren, sagte sie später, in Gedanken immer schon bei mir und den unfassbaren Ereignissen. An die Fahrt hat sie keinerlei Erinnerung, nur daran, dass ihre Mutter fortlaufend mit meinem Vater telefonierte. Von ihm kam die Nachricht, er habe wenige Minuten zuvor mit seinem Sohn im Krankenhaus telefonieren können, es gehe ihm den Umständen entsprechend gut. Rouja glaubte kein Wort, sie dachte, mein Vater wolle sie nur beruhigen – vielleicht, so mutmaßte sie, standen die Polizeibeamten sogar neben ihm, damit er sie zur Umkehr überredete. Während die Dörfer, Städte, die Ausfahrten und Entfernungstafeln nach Köln an ihr vorbeirauschten, dachte sie an das Schlimmste, dass sich mein Zustand vielleicht verschlimmert hätte, dass ich ernste Schäden davongetragen hätte und vielleicht sogar im Koma läge und es ihr nur keiner sagen wollte. Sie musste so schnell es ging nach Köln, um endlich Gewissheit zu haben, dass ich lebte. Sonst ist meine Frau eine sehr vorsichtige und defensive Autofahrerin, aber so schnell, wie sie fuhr, hatte sie an diesem Tag wohl einen Schutzengel.
Auf der Fahrt erzählte Rouja ihrer Mutter, dass sie niemals im Leben damit gerechnet hätte, das sich ihr Mann irgendetwas antun würde. Immer sei ich ihr als sehr fröhlich, offen, ausgeglichen, fürsorglich und stark erschienen. In den letzten Monaten hätte sie zwar bemerkt, wie mir die Sorgen viel von dieser Stärke und Unbekümmertheit genommen hätten – aber dass ich versuchen würde, mich umzubringen, war fern jeder Vorstellung. Sie sah meine Probleme als kleine, vorüberziehende Krise, aber nicht als lebensbedrohlich an, so wie sie sich jetzt darstellten. Sie hatte nie auch nur die kleinste Andeutung wahrgenommen, dass ich den Stress nicht mehr aushalten und nicht mehr leben wollte. Die Querelen im DFB um meine Person hatte sie bisher nicht als lebensgefährliche Bedrohung empfunden. Immer wieder hatte sie mir Mut gemacht, sofort aufzuhören, falls die Belastungen zu groß für mich würden. Wir seien beide finanziell gut abgesichert, hätten beide einen festen Job und verdienten sehr gut. Auch unsere Partnerschaft sei immer harmonisch und liebevoll gewesen. Durch den Verzicht auf Fußball hätten wir endlich viel mehr Zeit füreinander gehabt. Es wäre uns gut, vielleicht sogar sehr viel besser gegangen ohne die Intrigen und den Stress der Bundesliga. Und jetzt das!
Während der Fahrt machte Rouja sich immer wieder Mut. In ihr keimte so etwas wie Hoffnung auf. Vielleicht war hier der Schlusspunkt, über den sie manchmal mit mir gesprochen hatte: der Ausstieg aus der Karriere als Schiedsrichter, von dem aus wir einen Neuanfang starten könnten. Entscheidend war für sie jetzt allein, ob und wie ich überleben würde, dann würde es schon irgendwie weitergehen.
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14:40 Uhr: Auch Theo Zwanziger ist unterwegs auf der Autobahn nach Köln. Er sitzt wie gefangen in seinem Dienstwagen und versucht sich in die Telefonkonferenz mit den Verantwortlichen in Köln einzuwählen. Während sich das RheinEnergieStadion stetig mit Zuschauern füllt, herrscht in den Katakomben unter den Tribünen Chaos und Durcheinander. Überall in Deutschland läuten die Telefone in den Vereinen. Wird man noch rechtzeitig einen Ersatzschiedsrichter beschaffen? Für das Spiel gibt es nicht mal mehr einen Assistenten. Patrick Ittrich, Holger Henschel und Frank Willenborg sehen sich nach den aufwühlenden Ereignissen nicht mehr in der Lage, das Spiel zu leiten. Sie werden von einem Kriseninterventionsteam psychologisch betreut.
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