Ich pfeife auf den Tod!: Wie mich der Fußball fast das Leben kostete (German Edition)
Zusammenbrüchen beschäftigt gewesen, die umso schlimmer wurden, je mehr Details ich über die Nacht und ihre Folgen erfuhr. Ich hatte erst auf der Polizeistation erfahren, dass wegen mir das ganze Spiel ausgefallen war. Als ich zum ersten Mal wieder in meinem Klinikzimmer saß, durch Beschäftigungslosigkeit zur Ruhe förmlich gezwungen, stellte sich für mich zunehmend deutlicher die Frage, was draußen los war, wie über mich berichtet wurde. Ich hatte keine Zeitungen gelesen, keine Mails, kein Fernsehen, kein Radio. Wir waren völlig abgeschnitten von dem, was um uns herum geschah – obwohl wir eigentlich im Mittelpunkt der ganzen Berichterstattung standen. In dieser seltsamen Ruhe, die plötzlich um mich war, klammerte ich mich an die vage Hoffnung, dass mein Fall vielleicht doch nur als Randnotiz eines tragischen Zwischenfalls am Bundesligaspieltag in die Zeitungen gekommen war und meine Tat bald wieder von größeren Ereignissen überlagert und vergessen sein würde. Je geringer das Aufsehen, dachte ich, desto weniger würde ich zu reparieren haben, wenn ich aus der Klinik entlassen würde. Vielleicht war alles gar nicht so schlimm, wie ich mir die ganze Zeit einredete? Ein Ausrutscher, nicht der Rede wert und in wenigen Wochen vergessen. Selbst eine Depression sah ich nicht als begründet, doch ich war seelisch tiefer gefallen und verletzt, als ich nur denken konnte.
Voller Hoffnung bat ich meine Frau, alle Zeitungen zu besorgen. Was ich dort allein in den Schlagzeilenüberschriften las, überstieg meine schlimmsten Befürchtungen um das Tausendfache. Mein Zustand verschlimmerte sich enorm. Die Mischung aus Selbstvorwürfen, Wut, Schuldzuweisungen – und am Ende dieser sich im Kreis drehenden Rasereien immer wieder das abgrundtiefe Gefühl der Scham – begann sich zunehmend zu einer zähen Masse zu verdichten, in der ich zu erstarren drohte.
Wir hielten uns jetzt zwei Tage in der Psychiatrie auf, wie in einer Art Zwischenlager. Die Frage war nunmehr, wie es mit mir weitergehen sollte. Die Ärzte legten großen Wert darauf, dass ich nach Hannover verlegt würde. Ich wollte aber nicht »verlegt« werden in eine andere Klinik, sondern natürlich nach Hause. Aber die Psychologin lehnte das ab, weil sie meine Entlassung nicht verantworten wollte. Somit wurde eine Klinik in Hannover kontaktiert und der Termin für meine Einweisung festgelegt. Wer in die Psychiatrie kommt nach einem Selbstmordversuch, verliert einen Teil seiner Selbstbestimmung. Das war für mich am schwersten zu ertragen. Ich ging nicht mehr freiwillig zu einem Arzt – sondern ich wurde »eingewiesen«. Ich fuhr nicht mehr selbst zu einem Arzt – sondern ich wurde in einem Krankenwagen »verlegt«. Ich war nicht zu überzeugen, aber natürlich hatten die Ärzte recht! Nachdem ich versucht hatte, mich durch den Sprung aus dem fahrenden Auto meiner quälenden Schuldgefühle doch noch zu entziehen, war selbst Rouja nicht mehr zu überzeugen, mich in unserem Auto nach Hannover zu fahren.
Ich hatte einen roten Reiter auf meiner Krankenmappe, wo draufstand: »Achtung, suizidgefährdet!«, sodass ich am nächsten Morgen angeschnallt auf einer Krankentrage in einem Krankentransporter nach Hannover »verlegt« und in die nächste Klinik »eingewiesen« wurde. Festgeschnallt wie ein Reisekoffer sah ich während der drei Stunden Fahrt nur durch einen Spalt über den Milchglasscheiben viel Himmel und Wolken stoisch vorüberziehen, zerhackt von Autobahnbrücken und Überlandleitungen und den Kondensstreifen der Flugzeuge, die all die Karrieretypen, zu denen ich bis vorgestern auch gehört hatte, zu ihren unaufschiebbaren Terminen und Konferenzen brachten.
Ich dachte an meine Erfolge, die vielen Menschen, denen ich begegnet war, meine kleinen Jetset zu den Hauptstädten Europas, die Anerkennung, die mir während meines Aufstiegs von allen Seiten plötzlich wie von selbst zuzuwachsen schien. Es war eine so spannende, fast wie in einem Rausch dahinfliegende Zeit gewesen. War dieses Leben schon zu Ende? Sollte das wirklich alles gewesen sein? Was sollte jetzt noch kommen außer einem ewigen Spießrutenlauf, der mich für die Lächerlichkeit meines Tuns ewig abstrafen würde? Ich hatte viel Zeit, in diesen drei Stunden nachzudenken. Ich dachte an die vielen Anfeindungen und Niederträchtigkeiten der vergangenen Monate, ich hörte die Schmähgesänge der Fankurve, ich erinnerte mich an den Schmerz der Überraschung, nicht mehr als FIFA-Schiedsrichter
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