Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)
natürlich besetzt.
Also wieder warten. Auf den freien Billardtisch. Wobei es hier nur einen einzigen gab, der stets von einem Pulk von Leuten umlagert war, die ihrerseits lange gewartet hatten. Logisch, daß es dann beim Billard auch um nichts anderes ging als ums Warten: warten, bis man dran ist, warten, bis die Kugel ruht, bis man seinen Stoß vergeigt hat, und warten, bis man wieder eine Runde warten muß.
Im Lauf der Zeit wurde Billard für uns zur Metapher. Für das Leben an und für sich, mal für Zufall und Glück, mal für den unausweichlichen Gang der Dinge, hauptsächlich aber für das Warten schlechthin. Warten als Hobby, Warten als Dauerzustand, Warten als Modus vivendi, Warten als Daseinsbewältigung. Die DDR war das Land, in dem am meisten und, wenn das möglich ist, am intensivsten gewartet wurde. Alle warteten hier, entweder darauf, daß etwas begann, oder darauf, daß es aufhören würde. Man wartete stundenlang vor Geschäften, bis die Schlange vorwärts rückte, man wartete Jahre auf Autos, aufAutoersatzteile, man wartete auf die Zuteilung der Wohnung, man wartete auf das unabsehbare Ende der Rede des Generalsekretärs des Zentralkomitees der SED und Staatsratsvorsitzenden der DDR sowie Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates auf der Berliner Bezirksdelegiertenkonferenz zur Vorbereitung des Parteitages, man wartete auf ein neues Buch, das längst erschienen sein sollte, auf Westpakete, die angeblich unterwegs waren, auf Handwerker, die nie kommen würden, und immer darauf, daß irgend etwas passierte. Das ganze Leben bestand aus Warteperioden. Offiziell wurde stramm auf den Ausbruch des Kommunismus gewartet, ansonsten warteten die meisten auf die Rente, weil sie dann reisen konnten.
Uns blieb gar nichts anderes übrig, als das Warten regelrecht zu zelebrieren. Und das ging so: Man lief, wenn man an der Reihe war, mehrmals um den Tisch, betont langsam, sich hinabbeugend, die Lage der Kugeln von allen Seiten in Augenschein nehmend. Zwischendurch richtete man sich auf, um skeptisch in die Runde zu schauen und allein mit seinem Blick und ohne Worte ungefähr das zum Ausdruck zu bringen: Daß hier eine komplizierte, nicht nur allen Regeln der Physik spottende, sondern auch jenseits ihres Geltungsbereiches schier ausweglose Stellung vorlag, war klar, aber daß es so kompliziert sein würde, das, nein, das wirklich nicht. Anschließend stellte man sich, Formeln murmelnd, Gravitationswerte kalkulierend und die Tücken des Tuches studierend, hinter verschiedene Achsen, ging noch einmal, wie um Anlauf zu nehmen, ein paarmal um den Tisch, drehte sich nach hinten, um zu prüfen, ob da nicht jemand sei, dessen negative Energie den Stoß eventuell ungünstig beeinflussen könnte, und legte an. Zielte. Setzte wieder ab. Kreidete, das hatte man in der Hochkonzentrationsphase nämlich vergessen, die Spitze des Queues. Kreidete langsam, kreidete gründlich, hörte überhaupt nicht mehr auf zu kreiden, wie in Trance.
Zielte neu. Und stieß endlich zu.
Was dann passierte, war klar: wieder warten. Die Kugel zog mit aufdringlicher Langsamkeit über die grüne Bahn, schleppte sich mit abnehmendem Schwung von Bande zu Bande, von der sie mit dumpfem, klaglosem Puffen abprallte, bis sie irgendwann nach längerem und scheinbar unentschlossenem Kreuz und Quer sich doch in eine Tischecke zu orientieren schien und, siehe da, zu den anderen beiden Kugeln hinbequemte, die ihrerseits wie ermattet und uninspiriert vor sich hin dösend, man weiß nicht warum, am Treffpunkt ausharrten und mit einem leisen, kaum hörbaren Klacken aneinanderstießen.
Magische Momente waren dies, weihevolle Augenblicke, uns durchschauerten quasireligiöse Erleuchtungen sinnstiftender Sinnlosigkeit, die wir mit pathetischen Worten zu kommentieren wußten:
»Das ist kein Schwein mehr, das ist eine Sauerei.«
»Wahrscheinlich ein phantastischer Rotationsfehler der Erdachse, daß die Kugeln jetzt alle in eine Ecke gerutscht sind.«
»Falsch berechnet, falsch gestoßen, falsch getroffen – nur so geht’s.«
Mag sein, daß uns ein solcher Stoß die real-existierende Welt, die uns umgab, die Tristesse, die Wurschtigkeit, die niederziehende Provinzialität des Landes kurzzeitig ausblenden ließ, so daß vorerst nichts weiter zum absoluten Glück fehlte als eine neue Runde Bier.
Da jedenfalls, in der »Klubgaststätte Druschba«, einer Plattenbau-Kneipe mit Kegelbahn, traf ich ihn zum ersten Mal – den sie »WC« nannten, »Weltchef«.
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