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Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Titel: Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rayk Wieland
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Ich hatte einiges gehört. Ein legendenumwaberter Macker, Türsteher, Klubchef, ein Ostzonen-Al-Capone, der Karten spielte, in irgendwelchen Hinterzimmern auch Roulette, wenn er nicht würfelte oder am Schachbrett saß. Ein Spieler, ein Zocker, es ging immer um Geld. Seinen richtigenNamen kannte ich damals nicht. Aber ich wußte, daß er WC auch deshalb genannt wurde, weil er Toilettenpächter war, und zwar am Alex und im S-Bahnhof Friedrichstraße.
    Toilettenpächter, das hört sich vielleicht nicht sehr glamourös an, aber man muß wissen, daß für diese Berufsgruppe die DDR ein unfaßbares Paradies und Dauerzuckerschlecken gewesen sein muß. Toilettenpächter, das war das Höchste. Die Maximalkarriere. Kommunismus als Istzustand. Geld für nichts oder nur dafür, daß man die Hand aufhielt. Halbmafiose Clans regelten den Zugang zu den lukrativsten Kloposten, die auf Lebenszeit in Beschlag genommen wurden. Es müssen da Summen im Rickeracke-Rockefeller-Bereich geflossen sein.
    Wie um sein kriminelles Portfolio zu komplettieren, war der Weltchef außerdem, hieß es, Zuhälter. Angeblich. Eine Branche, die es in der DDR zwar nicht hätte geben dürfen, aber hintenrum klappte es eben doch. Es lief so: Türsteher vor Bars und Clubs – wie überall die gleichen eminent dumpfen Existenzen, die Kraftsport machten, öfter mit beiden Beinen im Gefängnis waren und sich ansonsten bemühten, so auszusehen wie Modern Talking in Aspik – ließen bestimmte Frauen nur rein mit der Auflage, daß sie sich um die Gäste kümmerten. Damit waren meistens westliche Touristen gemeint, die sich gewundert haben dürften über die Kontaktfreudigkeit ostdeutscher Verkäuferinnen. Das Geld, das dabei liegenblieb, ging an die Türsteher und von da weiter zu WC. Was der mit dem ganzen Aluminium machte, war mir schleierhaft.
    Es gab Gerüchte und Gemunkel von Wettgeschäften auf den Pferderennbahnen in Karlshorst und Hoppegarten, wo der Einlauf der Rennen vorher ausgehandelt worden sei. WC mit dabei. Er stellte die Leute von Polizei und Verwaltung mit kleinen Gefälligkeiten ruhig, damit sie ein Auge zudrückten. Setzte dann auf irgendeinen Außenseiter von Hengst namens Alonso. Und kassierte eine Quote von 483 zu 5.
    Sein Name fiel praktisch immer, wenn irgendwo in der Stadt ein heikles Geschäft lief und ein paar Bündel Hundertmarkscheine über den Tisch wanderten, meistens in seine Richtung. Wir bewunderten ihn. Daß einer wie er mitten in dieser vermurksten DDR sein krummes Ding drehte, wie er wollte, hatte Stil, hatte Charme, hatte unsere Sympathie. Und wenn man von seinem Weltchef-Gehabe und der wahrscheinlich vom WC-Pächtertum herrührenden Aura des Dubiosen absah, verkörperte er das, was wir alle gern hätten sein wollen, wenn wir nicht so bescheuert gewesen wären.
    Er lehnte neben uns am Tisch. Rauchte. Beobachtete die Lage. Ich schätzte ihn so alt wie wir, also um die zwanzig. Ein hochaufgeschossener, hagerer Typ. Trug, wie ich später sah, stets eine schwarze Lederweste, schwarzes Hemd, schwarze Haare, passend zu seinen schwarzen Augen, die schnell unterwegs waren. Irgendwann, in einer kleinen Pause, blätterte er einen Zwanziger aus einem Packen, den er der Innentasche seiner Weste entnommen hatte. Wir spielten den ganzen Abend, Zweibänder, Dreibänder, ich verlor natürlich, aber nicht viel. Ein paar Wochen später raste er mit mir als Beifahrer mit 120 Sachen zu den Klängen von Verdis »Rigoletto« durch eine Einbahnstraße – in verkehrter Richtung, versteht sich.

    Das Ost-Berlin der achtziger Jahre war bekanntlich ein Dorado der Nischensysteme, notdürftig überlagert von offiziellem Getue, dem niemand Glauben schenkte. In der Öffentlichkeit pries die DDR sich über alle Maßen und praktizierte die unverhohlene Selbstanschleimerei. Das Erreichte wurde allseitig vertieft, das Geleistete weiter ausgebaut, die Errungenschaften vervollkommnet, und stolz wurde zurückgeblickt auf die Erfolge, die ein Garant waren für Unumkehrbarkeit des Unumkehrbaren. »Alles zum Wohl des Volkes!« lautete die Dauerlosung der Partei – es war ein Sozialismus für Alkoholiker.
    Dahinter, dabei und jenseits dessen gab’s etliche Parallel-, Zwischen- und Unterwelten, die wunderbar funktionierten. Zum Leben brauchte man kaum Geld. Eine Zweiraumwohnung im Prenzlauerberg kostete die Phantasie-Miete von 21,37 Mark der DDR. Essen und Trinken, Bier und Wein waren Pfennigartikel. Luxusgüter und Klamotten standen nicht groß zur Auswahl. Reisen

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