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Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Titel: Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rayk Wieland
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Herabwürdigung der staatlichen Ordnung und war an der Grenze zur strafrechtlichen Relevanz.«
    Oberleutnant Schnatz vermittelt zwischen den unvermeidlichen Haupt- und Unterabteilungen die Lage. »Einleitungsberichte« und »Maßnahmepläne« für eine »Operation K« werden erstellt, »Zielstellungen« formuliert, die der Lyrikparanoia einen neuen kräftigen Schub geben. Großartig wie immer die Genitiv- und Dativ-Kaskaden, ein Stau stur hintereinander geparkter Wörter, die nicht vorwärts und nicht rückwärts können. Sätze wie Plattenbauten, Substantive, aufgereiht wie beim Appell, ein Spalier von Begriffen, die einzig dazu zu dienen scheinen, die eigenen Absichten sogar vor sich selbst geheimzuhalten: »Koordinierung der Unterabteilungen der Hauptabteilung zur Gewährleistung des gegenseitigen Informationsaustausches und Aufrechterhaltung der Maßnahmen zwecks Prüfung der Möglichkeit einer konspirativen Wohnungsdurchsuchung zur Erarbeitung von Beweisen in der Bearbeitungsrichtung bei operativer Notwendigkeit.« Hut ab.
    Sie hätten auch schreiben können: »Laßt uns in seine Bude einbrechen, ihm ein Ding unterschieben und ihn dann mal kräftig in die Mangel nehmen« – aber das klingt natürlich weit weniger amtlich.

    Sehr schwer dürfte es nicht gewesen sein, sich Zugang zu meiner Wohnung zu verschaffen, denn die Tür ließ sich mit der Schulter ganz leicht aufschieben. Dort nahmen sie ein paar Zettel mit, die herumlagen, um mir später vorzuwerfen, ich würde sie in der Öffentlichkeit verbreiten. Nicht gerade ein Trick aus der ersten Reihe der modernsten Geheimdiensttechniken. Die Verzweiflung vulgo »operative Notwendigkeit« muß groß gewesen sein.
    Am Ende der generalstabsmäßig durchgeführten Geheimoperation ist die Stasi im Besitz der »Möglichen Exekution des Konjunktivs«, die sie komplett und ebenso fleißig wie sinnlos kopiert, inklusive aller Korrekturen, Fehler undhandschriftlichen Zusätze wie »Kaffee kaufen«, »10,60 Mark plus 3,80 Mark plus 65 Pfennig minus 350 Mark« oder »Janas Nr.: 343243«.
    Die Zettelsammlung ist eine kleine, mit reichlich Wein und Schabernack entstandene Sammlung von Gelegenheitsversen, die niemand kannte, niemand kennen sollte und niemand je würde kennengelernt haben – wenn’s nach mir gegangen wäre. »Mögliche Exekution des Konjunktivs« hieß sie, weil ich mich der rein sportlichen Herausforderung gestellt hatte, in jedem Gedicht mindestens einen Konjunktiv unterzubringen. Warum ich das wollte, entzieht sich heute meinem Erinnerungsvermögen. Im Deutschen ist der Konjunktiv ja in vielen Fällen identisch mit der Vergangenheitsform. Nicht ausgeschlossen, daß ich das damals sehr anspielungsreich fand.

    Die von der Staatssicherheit in die Wege geleitete und von der Bundesbeauftragten gesponsorte Wiederbegegnung mit dem früheren Ich ist eine ambivalente Partie. Einerseits freut man sich über die verloren geglaubten Erinnerungsstücke. Andrerseits würde man gern, noch bevor man die Seiten der Akte dreimal umgeblättert hat, leugnen, der Mensch, der man war, jemals gewesen zu sein.
    Es gab ein Motto, aber das hieß natürlich nicht Motto, sondern:
    M ÖGLICHES M otto
    Ein Lied in allen Dingen schlief?
    Kann sein. Doch nur im Konjunktiv.
    Es gab Randformeln zum Weltgeschehen, deren süße Hellsichtigkeit heute so blendet, daß ich sie nur mit Sonnenbrille lesen kann:
    W IE ES AUSSIEHT
    Ein Problem ist kein Problem.
    Nichts ist, was niemand wüßte.
    Was sagt die Zeit? Sie steht.

    Real ist nichts von dem,
    Was real sein müßte.
    Das ist die Realität.
    Und es gab goldene Kalenderblatt-Weisheiten aus dem Schatzkästlein poetischer Augenblicksmirakel:
    U HRENVERGLEICH
    Es ist ein magischer Moment:
    Die Uhr, auf die ich schaue, rennt,
    Während die andre nebenan,
    Weil sie nicht mehr gehen kann,

    Steht. Kaputt ist und seither
    Auf halb drei weist so wie der
    Zeiger jener Uhr, die fleißig
    Tickt und zeigt: 14 Uhr 30.

    Sei’s wie’s sei und wie man’s sieht:
    Die Zeit vergeht. Und nichts geschieht.
    Oberleutnant Schnatz, meinem persönlichen Lyrik-Inquisitor, behagt das ganze Konjunktivprojekt nicht, es ist ihm nicht geheuer. Er sieht, nicht zu Unrecht, überall Anspielungen am Werk. Gott sei’s geklagt. Es wäre in der DDR sehr schwierig gewesen, Anspielungen zu vermeiden. Als Präteritum-Fan hätteman mir Anspielungen auf das Zurückliegende, Rückwärtsgewandte, aufs Kaiserreich unterstellen können. Bei Futur wäre ich für einen Utopisten und

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