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Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Titel: Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rayk Wieland
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Akte auf eine kryptische Notiz von Oberleutnant Schnatz stieß: »Demo absurd! Protest paradox. Absicht d. Verschleierung. Umfang u. Ausrichtung der Provokationen aufklären u. sicherstellen. Ausgangspunkt ist das Friseurmuseum, das geheime Zentrum d. neg. Aktivitäten in der Hauptstadt. W. ist jeden Tag hier, um sich mit (Name geschwärzt) zu treffen. Zirkulation gegn. Blätter sowie Kontaktaufn. mit anderen feindl. Gruppierungen u. Austausch div. feindl. Schriften u. Losungen, die geeignet sind, die Grundlagen des soz. Zusammenlebens in Frage zu stellen. Durch IMS erfolgt operativ bedeutsame Sicherstellung der Aufklärung von Anhaltspunkten, u.a. Planung und Aktivitäten zu Demonstration auf Alexanderplatz.«
    Ich schwanke ja immer, ob die sogenannte Realität nicht besser als jedwede Erfindung ist oder ob die Erfindung die Realität am Ende nicht doch toppt. Vielleicht muß das ideologiefrei von Fall zu Fall entschieden werden.
    Das Friseurmuseum existierte tatsächlich. Es befand sich in der Husemannstraße im Prenzlauer Berg. Die Straße war Ende der achtziger Jahre ein Vorzeige-Objekt, was die Rekonstruktionvon Gründerzeithäusern betraf. Durch diese gerade mal hundert Meter eierte ein Touristenbus nach dem andern, aus den Fenstern gafften sensationslüsterne Pauschal-Rheinländer. Wir liessen uns manchmal, wenn solche Busse vorbeikamen, wie frisch erschossen aufs Pflaster fallen oder taten so, als würden wir uns in Ketten gelegt durch die Straße schleppen. Den bizarren Mienen im Bus nach zu urteilen, muß es echt ausgesehen haben.
    Die Hauptattraktion des Friseurmuseums war ein angeblich echtes Haar von Katte, dem hingerichteten Jugendfreund Friedrichs II. Das angeblich echte Haar wurde natürlich nicht gezeigt, weil es zu kostbar war. Statt dessen dämmerten im Halbdunkel des Ausstellungsraums jede Menge hochbetagte Barbiergerätschaften vor sich hin. Es gab erblindete Spiegel in allen Schattierungen, furchterregende Zangen und Korkenzieher, offenbar für einen Einsatz tief im Körperinneren bestimmt. An der Wand hingen Uralt-Perücken, die vorzeitlichen Mottendynastien als Alterssitz dienten, neben einer beachtlichen Sammlung kurioser Bartattrappen.
    Dieses Museum war eines der unbesuchtesten der Welt. Mein Freund Karl-Werner und ich hingen oft da herum, ohne daß wir je andere Leute sahen. Der Leiter hieß Jürgen, von uns »UFO-Jürgen« genannt, weil niemand wußte, woher er eigentlich kam. Später, viel später hieß es, er sei von der Stasi gekommen, aber das interessierte keinen mehr.
    Karl-Werner war im Gegensatz zu mir ein echter Dichter, ein unbekannter Untergrunddichter. Er hatte Shakespeares Sonette übersetzt, und natürlich so, daß sie in der DDR nicht erscheinen durften. Im Prenzlauer Berg war er ein ebenso bekanntes wie gefürchtetes Faktotum, weil er jedem Geld schuldete. Nach der Wende bastelte er in Kneipen Stegreif-Akrostichen mit den Vornamen der Gäste zusammen und bekam dafür ein Bier oder ein paar Mark. Vor zwei Jahren fand man ihn tot. Er starb unbehelligt unter einer Sitzbank auf dem S-Bahnhof Karlshorst.
    In meiner Akte findet sich ein von Karl-Werner übersetztes Shakespeare-Sonett, das berühmte 66., schon Hunderte Male ins Deutsche übertragen, doch nie so gut wie von ihm. Vermutlich hatte die Stasi es auf ihrem Geheim-Fischzug in meiner Wohnung mitgehen lassen, in der Annahme, es sei von mir. Kein Wunder, es hatte ja einen Konjunktiv.
    S ONETT N R . 66
    Ich hab es satt. Wär ich ein toter Mann.
    Wenn Würde schon zur Bettelei geborn
    Und Nichtigkeit sich ausstaffieren kann
    Und jegliches Vertrauen ist verlorn
    Und Rang und Name Fähigkeit entbehrt
    Und Fraun vergebens sich der Männer wehrn
    Und wenn der Könner Gnadenbrot verzehrt
    Und Duldende nicht aufbegehren
    Und Kunst gegängelt von der Obrigkeit
    Und Akademiker erklärn den Sinn
    Und simples Zeug tritt man gelehrsam breit
    Und gut und böse biegt sich jeder hin.
    Ich hab es satt. Ich möchte weg sein, bloß:
    Noch liebe ich. Und das läßt mich nicht los.
    Shakespeare, wenn er in der DDR gelebt hätte, hätte sich auf einige dringliche Nachfragen aus der Magdalenenstraße gefaßt machen können, wo Oberleutnant Schnatz seinen unnachahmlichen und unnachgiebigen Textüberwachungsdienst schob. Der, nicht ahnend und vielleicht nicht wissen könnend, daß er hier dem guten alten William, der seit mehr als 350 Jahren unter der Erde war, den Prozeß machte, zog angesichts des Sonetts alle Register und Vokabeln für

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