Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)
Vorwandes zwecks Realisierung des Zugriffs« –, wo dann die Verhaftung erfolgen soll. Die Indianerspiele der Stasi, wenn sie einen nicht selbst betreffen, was hier leider der Fall ist, sind immer wieder erfrischend. In Berlin könnte sie mich ganz ohne Geheimoperation und Versteckspiel überall verhaften, denn hier bin ich ja immer irgendwo in Grenznähe. Aber das würde natürlich nur halb soviel Spaß machen.
Es war der Sommer 1989. Und es gab ja sonst nichts zu tun.Hatte der Weltchef beim Würfeln gewonnen, und das war in der Regel der Fall, lud er mich ein, und wir brausten in eine Nachtbar, wo gefeiert wurde. Feiern, das hieß damals hauptsächlich Rumstehen, es wurde geraucht und getrunken, man traf Leute, die auch rumstanden und mit denen weiter rumgestanden wurde, bis unerwartet lange nicht gesehene Bekannte auftauchten, die zu einer neuen Runde Rumstehen einluden. Gesessen wurde meines Wissens nie, die wenigen Sitzplätze, die’s gab, waren möglicherweise wie die öffentlichen Toiletten verpachtet auf Lebenszeit.
Hatte er verloren, fuhren wir weg. Weit weg. Irgendwohin. Ohne Ziel. WC legte eine Kassette ein, irgendeine, die gerade zur Hand war, Hauptsache »Richtiges«, sagte er, und damit meinte er Klassik. Dramatische Klassik, Beethoven-Sinfonien, italienische Oper, manchmal auch Wagner. Er setzte sich theatralisch zurecht, zog weiße Handschuhe an, die bei ihm im Handschuhfach lagen, drehte auf und fuhr los, mit mir in seinem weißen Lada, den imaginären Anweisungen der Musik folgend. Rechts abbiegen oder links, blinken ja oder nein, lenken oder freihändig durch die Gegend rasen, schneller fahren oder stoppen – das alles lag jetzt nicht mehr in seiner Macht, sondern in der der Musik. Der Weg war das Ziel, und die Richtung war ausschließlich musikalisch diktiert.
Nach wenigen Minuten vergaßen wir, daß wir im Auto saßen. Wir befanden uns in einem Film. Fußgänger, Landschaft, Straßenlaternen, Ampeln tanzten draußen vor dem Fenster. Passanten, die unsern Weg kreuzten, folgten dem Takt des Autoradios. Eine alte Frau, ganz in Schwarz, wie in Zeitlupe am Strassenrand in Wernigerode. Ein Hund, hin und her rennend auf der Autobahnbrücke irgendwo bei Helmstedt. Die Feuerwehr, einen Brand im Dachstuhl löschend in einem Dorf hinter Salzwedel. Ein Ball, der in der Nähe von Probstzella über die Fahrbahn sprang.
Die Welt, ganz klar, war ein Musikvideo.
WC nannte es, zutreffender, »musikalisches Roulette«.
Stoppschilder zum Beispiel konnten nur dann berücksichtigt werden, wenn die Musik es zuließ. Ampeln waren wichtige Bildelemente, die oft entzückend im Takt lagen, aber genauso oft ignoriert werden mußten. Die Geschwindigkeit orientierte sich ausschließlich am Tempo des Orchesters und nie an den Schildern am Straßenrand. Zum Glück war der Verkehr in der DDR eher dünn, das hat uns das Leben gerettet. Ein überraschender Einsatz in Verdis »Rigoletto« erforderte den sofortigen Rechtsschwenk in eine Einbahnstraße, auch in die Gegenrichtung, wenn’s sein mußte. Bei Bachs Trompetensoli durfte nicht gebremst werden. Kamen in einem Stück die Streicher zum Zuge, schaltete der Weltchef die Scheinwerfer aus und meldete, als wäre es eine offizielle Ansage: »Mond übernimmt.«
Ich erinnere mich noch gut, als wir bei Meiningen querfeldein über eine Lichtung fuhren. Hell strahlte der Kegelscheinwerfer des Mondes auf die Landschaft, durch die ein weißer Lada ohne Licht schlingerte. Eine Pantomime für Außerirdische mit zwei weißen Handschuhen am Lenkrad. Rhythmisch passend dazu blinkte am Horizont das Blaulicht der Polizeistreife, die die Gegend nach uns absuchte. Aus dem Radio dröhnte Wagners »Fliegender Holländer«. Die 70.000 Mark, die WC vor ein paar Stunden mit einem Spielzeugwürfel verloren hatte, zählten nicht mehr viel.
Bei Eisenbahnschranken wurde ich religiös.
Einmal setzte die Musik genau in dem Moment aus, als wir einen Bahnübergang passierten. Der Weltchef hielt, schaute nach rechts und schaute nach links und sagte: »Gefährliche Stelle hier.«
Dann warteten wir.
12
H INTERHER IST MAN IMMER DÜMMER , aber was heute wirklich niemand mehr weiß und nicht wissen kann: Das geheime Zentrum der DDR-Opposition in den letzten Tagen vor dem Fall der Mauer war nicht die Kirche, kein Dichterkreis, auch keine Friedensinitiative mit angeschlossenen Westkontakten, sondern das Friseurmuseum in Ostberlin.
Auch ich wußte nichts darüber, bis ich auf den letzten Seiten meiner
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