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Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Titel: Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rayk Wieland
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Linksradikalen gehalten worden. Und wenn ich Imperativ-Gedichte verfaßt hätte? Tja, dann wäre das heimliche Anklage und Parodie auf den rauhen Kasernenhofton gewesen, der überall in der DDR zu vernehmen war.
    »Der Konjunktiv«, schreibt Schnatz in einer Notiz, »nimmt einer Aussage das Entscheidende, die Wahrheit. Alles ist ›möglich‹, nichts notwendig, nichts muß sein. Mit dieser erklärtermaßenen Grundhaltg. steht W. im offenen Widerspruch zur wissenschaftl. Weltanschauung. Was im Konjkt. steht, muß nicht stimmen, bleibt offen. Angriff auf Grundlg. der Gesellsch. Vgl. ›real ist nicht die Realität‹. W. betrachtet den real existierenden Soz. in der DDR objekt. als ›nicht real‹.«

    Staat in Gefahr. Zwar sehe ich mich weder als Dissident noch als Dichter. Aber es ist wahr, ich bin jung, verliebt und brauche die Lyrik. Und nicht nur ich. Auch der Weltchef meldet immer wieder Bedarf an. Für seine Freundin in Westberlin hätte er gern Gedichte, nicht das Übliche, erzählt er mir im »Café Nord«, einer Ostberliner Nachtbar, wo wir uns begegnen. Aus der »Möglichen Exekution des Konjunktivs« habe ich einiges für ihn parat, das er nur an Oberleutnant Schnatz weiterleiten muß.
    P LAN UND G EGENPLAN
    Die Welt ist groß. Das Land ist klein.
    Der Mensch ist fett. Die Luft ist dünn.
    Die Straßen führen nirgends hin
    Als nur zu dir. So soll es sein.

    Das Land ist klein. Die Welt ist groß.
    Die Luft ist dünn. Der Mensch ist fett.
    Und auf den Straßen ist nichts los.
    Ich will zu dir. Und zwar ins Bett.

    Was wir da tun? Ich würde gern
    Dir Näheres vor Ort erklärn.
    Dagegen, sollte man meinen, konnte, bei aller Antipathie, Schnatz, der Oberleutnant, nichts haben, auch wenn er sich noch so versteifte. Hatte er aber doch.
    »Plan und Gegenplan, Verächtlichmachung des soz. Planungswesens … Ironische und ablehnende Haltung zu Brigadeinitiativen in Betrieben … Operativ bedeutsam: Straßen, die angeblich nirgendwohin führen, große Welt und Land, das zu klein ist. Anspielung und Zusammenhang auf mehrfach geäußerte Fluchtabsichten des W. Überprüfung Kontakte mittels Postmaßnahme M zur Sicherstellung d. Verbindungen ins NSW. Erkenntnisse zu Verbindungspartnern des W. sammeln … Weitere Maßnahmen: Aufklärung genaue Adresse ›vor Ort‹. Auftrag und Verhaltensrichtlinie für ›Spieler‹: durch persönliche Gespräche mit W. Interesse an weiteren Gedichten zeigen mit Bitte, sie zum Abschreiben zu bekommen.«
    Als äußerst leichtsinnig und kontraproduktiv erweist sich jetzt eine Redensart von mir, die, mir kaum mehr erinnerlich, der running gag der Akte ist: Ich wolle, sage ich gelegentlich, sowieso nicht zu Ende studieren, als Philosoph müsse man das nicht, höchstens drei Semester, dann am Strand in Portugal sitzen und aufs Meer schauen. Ich stelle das Freunden gegenüber öfter in den Raum, nicht weil ich’s vorhabe, sondern weil’s cool klingt. Mein Vorbild ist Pippip, der Held aus B. Travens Roman »Das Totenschiff«, der ähnliche Pläne hat.
    Nie hätte ich geahnt, daß diese Spinnerei als konkretesRepublikflucht-Vorhaben ins »NSW« (nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet) aktenpolitisch »aufgeklärt« wird. Seitenlange Berichte. »W. äußerte, daß er davon träumt, nach 3 Semestern des beabsichtigten Philosophiestudiums an der Humboldt-Universität, dieses Studium abzubrechen und ins NSW zu gelangen, um dort seinem Hobby nachzugehen.« – »Darüber hinaus liegen Informationen vor, wonach W. beabsichtigt …« – »W. plant …« – »W. erzählt oft in lustig wirkenden und zukunftsorientierten Gesprächen, daß er später, aber bis zu seinem 27. Lebensjahr, in Portugal am Strand sitzen will und nur lesen, Sonne usw.« – »Er sagte wieder, daß er nur 1 1/2 Jahre durchziehen will und dann nach Portugal ›übersiedeln‹ (Strandkorb, Tekiela [sic!], Bach, mehr nicht).«
    Ich war bis heute nicht da.
    Allein aufgrund dieser Flausen und sonnigen Tragträumereien, die ich naiv genug bin auszuplaudern, wird getagt, erarbeitet und beschlossen, einen »operativen Maßnahmeplan zur vorbeugenden Verhinderung« eines Grenzübertritts einzuleiten. »Anhaltspunkte«, »Verdachtsmomente«, »politisch operative Bedeutsamkeiten« werden wieder »im Sinne der Bearbeitungsrichtung« konstruiert inklusive der inzwischen unvermeidlichen »Schaffung von Beweisen«. Unter einem Vorwand soll IM »Spieler« mich in Grenznähe locken – die Rede ist vom »Auftrag zur Schaffung eines

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