Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)
Erfolg hat, wird sich einiges ändern und alle würden es merken. Es sei ein Zeitproblem.«
Schnatz hakt auch diesen Bericht als »auftragsgemäß und objektiv« ab, ist aber genauso schlau wie zuvor und wie er immer sein wird. Die Gruppe fliegt bis zum Ende der DDR nicht auf. Meerschwein Hugo und Standuhr bleiben unbehelligt. Und einweiteres Gedicht, das sich als unentschlüsselbar erwiesen hat, wandert in den Aktenbestand.
Z EITGEDICHT
Laß uns es tun. Bereichern wir die Zeit mit Zeit.
Bedenken wir, daß wir uns länger brauchen.
Wir müssen es riskieren. Wie? Zu zweit.
Beginnen wir mit Küssen und mit Rauchen.
Der Rest wird sich dann leicht von selbst ergeben.
Du weißt, nicht lange haben wir noch Kleider an.
Ich schlage vor, daß wir uns aufeinanderlegen.
Weil man die Zeit am besten so verbringen kann.
Was dann passiert? Wir schauen auf die Uhr.
Was? Sie geht nach? Eine Sekunde nur.
Eine Weile waren ein paar Freunde und ich wirklich auf der Suche nach Uhren, die eine Sekunde in der Minute nachgingen. Es war schwierig, weil genau zu der Zeit Quarzuhren aufkamen, die uns mit völlig neuer Exaktheit zu schaffen machten. Halb im Scherz, halb im Suff diskutierten wir auf Partys, was die Sekunden-Idee bringen würde.
Mein Standpunkt war, daß jede neue revolutionäre Bewegung als erstes den Kalender zu ihren Gunsten verändert habe, die römische, die französische, auch die russische. Ganze Monate wurden erfunden und umgruppiert, neu benannt, völlig neue Zeitrechnungen konstruiert. Uhren waren Ziel von Anschlägen. Daß es mit der DDR nichts sei, sehe man auch daran, daß sie keine revolutionäre Haltung zur Zeit habe.
Dann überlegten wir weiter, was die Sekundenverlängerung alles ermöglichen könnte. Fahrten und Transportwege würdensich mit einem Schlag verkürzen, klar. Das Studium wäre schneller erledigt, logisch. Nächte verlängerten sich, riesig, man müßte später aufstehen. Der Arbeitstag würde sich dann allerdings auch etwas longitudinaler, wie ein Medizinstudent in der Runde sich ausdrückte, hinziehen. Immerhin hätte man dafür einen halben Tag im Monat frei.
Quasi dialektisches Ergebnis der Debatten: Das Leben dauerte länger, bei gleichzeitiger Verkürzung.
Wir waren uneingeschränkt dafür.
Es schien die Lösung all unserer Probleme zu sein.
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»A UFKLÄRUNG UND V ERHINDERUNG « – »Umfassende Aufklärung« – »Erkennen und Beseitigen« – »Erarbeitung von Hinweisen« – »Vertiefung der scheinbar vertraulichen Beziehungen« – »Feststellen der Rolle« – »Koordinierung zur Gewährleistung« – »Aufrechterhaltung der Maßnahmen« – »Überprüfung der Einspeicherung der Handschrift« – »Gewährleistung von offensiver erzieherischer Einflußnahme« – »Sonderrecherchen bei operativer Notwendigkeit« – »Einschätzung des Materials«.
Die Leute bei der Stasi geben alles, ohne daß ich etwas davon mitbekomme oder ahne: der diskrete Charme des Apparats. Etliches Personal ist jahrelang beschäftigt. Alle Ressourcen werden ausgeschöpft, Abteilungen verzahnt und höchste Ebenen eingeschaltet. Sehr viele Steigerungsmöglichkeiten sehe ich nicht. Die Partie hat, was die DDR immer gern gehabt hätte, Weltniveau.
In der Rolle des richtig dicken Fischs: ich. Bereite ich den Atomkrieg vor? Lobpreise ich den Holocaust? Plane ich einen Anschlag auf die Volkskammer? Bin ich Topspion auf Breschnews Beifahrersitz? Habe ich das »Kapital« von Karl Marx in einer Pfanne gebraten, um mich an dem außen knusprig gebrutzelten, innen blutigen Buchrücken zu vergehen, das Werk mit dem Filetmesser zu tranchieren und Seite für Seite zu verspeisen?
Ich bin achtzehn, neunzehn und schreibe ein Gedicht für den »Talentwettbewerb des politischen Liedes«, Mitte der Achtziger in einer Berliner Berufsschule:
L IED DES H UNDEDIEBS
Heimlich um die Ecke
Bring ich dich, und zwar.
Wie, zu welchem Zwecke
Ist mir selbst nicht klar.
Daß Oberleutnant Schnatz damit nichts anfangen kann, leuchtet ein, aber daß sein Ehrgeiz den Vierzeiler zum Anlaß nimmt, völlig durchzudrehen, ist weniger transparent.
Auf dem »Talentwettbewerb« wurde bevorzugt zur Gitarre gesungen. Die Lieder handelten in der Regel von »sprachlosen Arbeitern und Bauern« und »im Winde irrenden Fahnen«. Mein Problem war: Weder konnte ich Gitarre spielen, noch wollte ich mit dieser Textsorte auftreten. So kam, was nicht unbedingt kommen mußte.
Ich hatte gerade Jaroslav Hasˇeks Roman »Schwejk« gelesen, an
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