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Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Titel: Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rayk Wieland
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besonders schwere Fälle: »Defätistische Tendenzen … Verhöhnung der Errungenschaften desSoz. …, unter Verwendung stereotyp. Parolen des Klassenfeinds …, Herabwürdigung und Verächtlichmachung führender Persönlichkeiten (›Obrigkeit‹), Diffamierung des soz. Rechtssystems …« Besonders gut gefällt mir die Formulierung: »Sämtliche feindl. Negativtendenzen eindeutig auf den Punkt gebracht.« Nicht gut gefällt mir, daß anhand der Zeile »Ich möchte weg sein, bloß« schon wieder die »wiederholt konkret geäußerte Absicht eines Republikfluchttatbestands« in Stellung gebracht wird. Shakespeare auf dem Weg nach Portugal, an der Grenze bei Helmstedt am Ärmel festgehalten von Oberleutnant Schnatz, das fehlte noch.

    Warum wir ausgerechnet im Friseurmuseum herumsaßen? Fakt ist, es lag genau zwischen drei Kneipen: der »Budike«, dem »1900« und dem »Café Husemann«. So war es eine Art natürlicher Rastplatz, um auf dem 30 Meter langen »Gewaltmarsch« dazwischen ein, wie Karl-Werner vorschlug, »Zwischenbier« zu trinken, das UFO-Jürgen stets im Kühlschrank hatte.
    Mal ging’s nur zu einem »Gelegenheitsbier«, mal war ein schnelles »Frischbier« vonnöten, ein »kurzes Spätbier« stand an, dann mußte unbedingt ein »Begegnungsbier« genommen werden, ein »Überbrückungsbier«, ein »Problembier«, ein »Nachbereitungsbier«, ein »Bierbegrüßungsbier« – Karl-Werner hatte für jedes Bier einen eminent relevanten Anlaß und eine treffende Würdigung der speziellen persönlichen Bier-Choreographie parat.
    Das Bier im Friseurmuseum nannte er »Kaltbier«.
    Karl-Werners Motto lautete: »Erst einsprühen, dann abruhen!« Was damit gemeint war, ließe sich am besten mit alles und nichts umschreiben. Möglich, daß es so etwas wie eine ursprüngliche Heimat des Spruches gab, irgendwo im Umfeld einer von Imprägnier- oder Antimückensprays geprägten Epoche. Von da aus diffundierten diese Worte aber, zumindest inKarl-Werners Sichtweise, in alle denkbaren und vor allem undenkbaren Welten und Kontexte.
    Karl-Werner sprühte viel und ruhte erstaunlich wenig. Es konnte passieren, daß er bereits morgens um sechs an die Tür klopfte, um meine Bereitschaft zu einem »Frühbier« auszuloten. Ich mußte blitzschnell entscheiden, ob ich zu einer Vorlesung in »Dia-Mat«, in dialektischem Materialismus, gehen sollte oder zu »Lehmann« in der Greifswalder, wo die Bauarbeiter frühstückten. Ich entschied mich in der Regel fürs Bett, aus dem mich Karl-Werner ein paar Stunden später mit der nun unabweisbaren Forderung nach einem jetzt fälligen »Tagesnormalbier« herausbeorderte.
    Während wir tranken, drehten sich unsere Gespräche in Endlosschleifen darum, daß man endlich etwas machen, etwas unternehmen, etwas tun müsse, nur was genau, blieb je nach Bierpensum amorph-diffus beziehungsweise strahlend-unrealisierbar.
    Wir ergingen uns in phantastischen Projekten. Karl-Werner erzählte von geplanten Theaterstücken, Hörspielen und Geheimtreffen mit Heiner Müller, die es nie gegeben hatte und nie geben würde. Im Grunde hatte er alles erreicht, unter anderem einen »Jagdschein«, auf den er durchaus stolz war. Damit konnte er nicht nur in den Westen reisen, sondern auch Dinge tun und Dinge sagen, für die ihn niemand belangte.
    Fünfzehn Jahre älter als ich, von schmächtiger Statur, sächselte er in einem leichtem Singsang, denn er kam aus Delitzsch bei Leipzig, und er erzählte mit der diabolischsten Aufrichtigkeit unglaubliche Geschichten. Er hatte sich mit achtzehn Jahren freiwillig zu den Grenztruppen gemeldet, wo er nach ein paar Tagen, statt in Uniform mit Pyjama, Stahlhelm und Besenstiel angetan, im Stechschritt durch die Kaserne exerziert war. Man musterte ihn wieder aus und überstellte ihn in die Psychiatrie. Seitdem hatte er alle Freiheiten, aber auch alle Sorgen, ernst genommen zu werden.
    Einmal, erzählte er, als wir wieder im Friseurmuseum saßen, umgeben von wilden Bartfigurationen und UFO-Jürgens kaltes Bier in der Hand, habe auch er bei der Stasi Anzeige erstatten müssen, und zwar in Leipzig. Er sei zur dortigen Bezirksstelle gegangen und nach mehrmaligem Klingeln auch hereingelassen worden. Er mußte seinen Ausweis vorlegen, und anschließend fragte man ihn als Bürger nach seinem Anliegen. Er trug es vor. Es gebe da, sagte er, ein gefährliches, zu allem fähiges Individuum, das, ohne es subjektiv zu wollen, aber objektiv eben doch, immer wieder reaktionäre Verhaltensweisen an

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