Ich schnapp' mir einen Mann
entfuhr es ihm.
Dann starrte er durch die jetzt weit offene Tür des
Wartezimmers auf das Sodom und Gomorrha auf der Couch.
»Herr Kollege!«, rief er entgeistert.
Heimschröder und Vanessa fuhren mit einem Aufschrei hoch und
bedeckten sich notdürftig mit allen Kleidungsstücken, die sie in ihrer
Hast zu fassen kriegten.
»Herr Kollege«, stotterte Heimschröder.
Anton richtete sich zu voller Größe auf. Seine Apathie war
angesichts der grotesken Situation verflogen, stattdessen fühlte er
grimmige Erheiterung in sich aufsteigen. Er nickte Schnellberger einen
knappen, formellen Gruß zu. »Herr Kollege.«
Desgleichen in Richtung Heimschröder. »Herr Kollege.«
Dann fasste er Floras Hand und zog sie auf die Füße. »Komm!«
Und wieder mal gaben sie Fersengeld. Sie
rannten Hand in Hand, ohne sich umzudrehen, bis ihnen (oder vielmehr
Flora) die Puste ausging. Weit kamen sie nicht. Ihr Dauerlauf endete
mitten auf einer Wildblumenwiese in einem Park, der nur wenige hundert
Meter von der Kanzlei entfernt lag. Flora krümmte sich und holte
japsend Luft. »Wahnsinn!«, keuchte sie. »Das war der helle Wahnsinn!«
Anton war seltsam zumute. Ein wildes Gefühl von
Ausgelassenheit und Befreiung durchströmte ihn, und für den Moment kam
er sich unbesiegbar vor.
Er warf den Kopf in den Nacken und lachte.
Flora zog sich übermütig die verrutschte Perücke vom Kopf und
lachte mit.
Sie lachten beide, bis ihnen die Seiten wehtaten.
Anton hörte nicht auf zu lachen, auch nicht, als er Flora
unter den Armen fasste, sie hochhob und herumschleuderte, bis die
Perücke in hohem Bogen davonflog.
»War das spontan genug?«, fragte er atemlos, als er sie wieder
abgestellt hatte. »Ich wette, du hast noch nie einen Mann erlebt, der
spontaner ist als ich!«
Sie gab ihm kichernd Recht und sah dabei so unwiderstehlich
aus, dass Anton sie augenblicklich umarmte und küsste, bis sie aufhören
mussten, weil sie sich sonst beide vergessen hätten.
Wenig später fanden sie eine Bank an einem malerischen kleinen
See, auf dem zwei Schwäne gemächlich ihre Kreise zogen. Eine gewaltige
Trauerweide schirmte die Bank mit ihren tief herabhängenden Ästen
nahezu vollständig gegen die Außenwelt ab, lediglich die Sicht auf den
See blieb frei.
Anton setzte sich, und Flora lehnte ihren Kopf gegen seine
Brust, die Beine hochgezogen und die Knie mit den Händen umfasst. Die
Situation hatte etwas Unwirkliches, wie sie dort auf der Bank saßen,
auf den Teich blickten, umgeben vom lichtdurchlässigen Grün der Weide,
in die Stille hineinhorchend, die durch nichts unterbrochen wurde als
durch den Gesang der Vögel und das Rascheln der Blätter.
Es war, als sei die Zeit stehen geblieben, als hätte die Welt
sich ohne sie weitergedreht und sie in einer Art Stasis zurückgelassen.
Diese Enklave der Ruhe schien ihnen unantastbar, die Weide wie ein
Schild gegen alle äußeren Einflüsse, die hochmütigen, eleganten Schwäne
wie ein Garant dafür, dass nichts und niemand je hier eindringen und
ihren Frieden stören konnte.
In träumerischer Versunkenheit schaute Flora hinauf in die
Baumkrone. Anton streichelte selbstvergessen ihr Haar, ihren Bauch,
ihre Hände.
Ihm kam unvermittelt etwas in den Sinn, das er für höchst
bemerkenswert hielt. »Weißt du was?«, meinte er.
»M-m.«
»Ich glaube, seit ich dich kenne, brauche ich keine
Magentabletten mehr.«
»Wirklich?«
»Seit dem Banküberfall komme ich ohne aus. Das ist seit Jahren
nicht passiert.«
Flora streckte träge die Hand aus und zog einen der
herabhängenden Zweige zu sich heran. »Komisch, oder?«
»Was ist komisch?«
»Das Leben. Wir versuchen immer, es in den Griff zu kriegen
und es zu zähmen. Aber es ist in Wahrheit unberechenbar, nicht zu
packen. Wie ein wildes Tier. Im einen Moment spaziert es gemütlich
dahin, im nächsten springt es dich an und schlägt dir seine Klauen
mitten ins Herz.« Gedankenverloren zupfte sie ein paar Blätter ab. »Und
weißt du, was besonders verrückt daran ist?«
»Hm?«
»Dass es ganz friedlich wird, sobald man es einfach laufen
lässt, es akzeptiert, wie es eben ist. Wenn man aufhört, dagegen
anzukämpfen. So wie wir in diesem Moment.«
»Was du da mit all deinen Synonymen beschreibst, nennt man
Fatalismus«, sagte Anton. Sein Atem kitzelte ihre Schläfe. »Das ist
allerdings nur eine Sicht des Ganzen. Es gibt durchaus Dinge, für die
es sich zu kämpfen lohnt.« Er hob eine Hand und deutete auf die beiden
Schwäne, die in
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