Ich schreib dir morgen wieder
in tiefer Trauer nehmen wir Abschied.« Robert Kilsaney war nur ein Jahr alt gewesen, als er am 26. September 1832 starb, und seine Mutter Rosemary war ihm zehn Tage später gefolgt. Für Helen Fitzpatrick, die 1882 gestorben war, war eingraviert: »Ihr Ehemann und ihre Kinder gedenken ihrer in zärtlicher Liebe.« Oft standen auch nur Namen und Daten da, was umso rätselhafter wirkte: »Grace und Charles Kilsaney 1850–1862.« Sie waren beide am selben Tag geboren und am selben Tag, mit gerade mal zwölf Jahren, gestorben. So viele Fragen.
Und damit nicht genug: Jeder Grabstein, auf dem die Schrift noch auszumachen war, trug unterschiedliche Symbole. Auf einigen waren Torbogen zu sehen, auf anderen Tauben, Pfeile, Vögel, seltsame, fast unheimliche Tiere, deren symbolische Bedeutung ich nicht kannte, aber gern erfahren hätte. Ich nahm mir vor, Schwester Ignatius zu fragen, sobald ich das Gefühl hatte, ihr wieder unter die Augen treten zu können. Nachdenklich ließ ich den Blick noch einmal über die Grabsteine schweifen. Zum Glück war ich nicht mehr so ängstlich wie beim ersten Mal, als ich hier vorbeigekommen war. Vielleicht hatten mich die Ereignisse der letzten Zeit wenigstens ein bisschen erwachsener gemacht. Mitten auf dem Friedhof ragte ein großes Steinkreuz in den Himmel, mit verschiedenen Namen, eine Familie nach der anderen, je jünger das Datum, desto deutlicher lesbar. Die letzte Inschrift befand sich ganz unten am Sockel des Kreuzes, einem großen Steinblock, und als mein Blick darauf fiel, konnte ich gar nicht glauben, dass sie mir nicht schon früher aufgefallen war. Davor lag ein Blumenstrauß – ganz frisch –, zusammengebunden mit langen Grashalmen. Ich kletterte auf den Zaun, um die Inschrift besser lesen zu können. »Laurence Kilsaney 1967–1992 RIP .«
Laurence Kilsaney war also erst vor siebzehn Jahren gestorben. Bestimmt war er bei dem Brand im Schloss ums Leben gekommen. Mit fünfundzwanzig. Wie traurig. Obwohl ich weder Laurence noch seine Familie kannte, musste ich plötzlich weinen. Spontan pflückte ich ein paar Wiesenblumen, band sie mit meinem Haargummi zusammen und kletterte damit über den Zaun. Ich legte die Blumen auf das Grab und streckte die Hand aus, um den Grabstein anzufassen, aber gerade, als meine Finger den kalten Stein berührten, hörte ich hinter mir ein Geräusch, ein Klicken. Vor Schreck sträubten sich mir die Nackenhaare, und ich wirbelte herum, in der Erwartung, einen Fremden zu entdecken, so dicht hinter mir, dass ich seinen Atem spürte. Aber obwohl ich mich nach allen Seiten umschaute, bis mir fast schwindlig war, konnte ich niemanden entdecken. Nur Bäume, so weit das Auge reichte. Schließlich versuchte ich mir einzureden, dass ich einfach panisch war, weil ich auf einem alten Friedhof stand, umgeben von Generationen, die an Pest, Krieg, Krankheit, Feuer und – humaner vielleicht – auch an Altersschwäche zugrunde gegangen waren. Doch sosehr ich mich bemühte, mich davon zu überzeugen, war ich dennoch sicher, dass jemand ganz in meiner Nähe war. Ich hörte einen Zweig knacken und spähte angestrengt in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war.
»Schwester Ignatius, sind Sie das?«, rief ich. Doch als Antwort hörte ich nur das Echo meiner eigenen zittrigen Stimme. Dann sah ich, wie die Bäume sich bewegten, und hörte, wie das Rascheln sich entfernte, als würde sich jemand hastig einen Weg durchs Unterholz bahnen.
»Weseley?«, rief ich und hörte wieder nur ein Echo.
Wer immer es sein mochte, war in großer Eile verschwunden. Ich schluckte schwer, sprang auf, kletterte über den Zaun und lief weg, so schnell mich meine Füße trugen.
Immer wieder drehte ich mich um, um mich zu vergewissern, dass mir niemand folgte, und ich schüttelte mich, als wäre ich durch ein riesiges Spinnennetz gelaufen, dessen Fäden noch an mir klebten. Als ich das Torhaus erreichte, senkte sich schon langsam die Dämmerung herab. Rosaleen saß im Wohnzimmer und strickte, im Hintergrund lief leise der Fernseher. Ihr Gesicht wirkte eingefallen, vermutlich war sie erschöpft von dem Streit. Arthur rumorte lautstark in der Garage hinten im Garten herum. Aber mich interessierte nicht mehr, was sie dort aufbewahrten, ich hatte das Gefühl, dass das Geheimnis, dem ich nachgejagt war, den Spieß umgedreht hatte und nun mir auf den Fersen war. Und ich hatte Angst. Ich wünschte mir, die Zeit beschleunigen zu können, ich wollte, dass Mum aufhörte zu trauern,
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