Ich schreib dir morgen wieder
ich aufwachte, blickte ich direkt in Mums Gesicht, das so dicht vor mir war, dass ihre Nase fast meine berührte. Um ein Haar hätte ich laut aufgeschrien. »Wo hast du es her?«, flüsterte sie mir ins Ohr.
Zuerst wusste ich gar nicht, wovon sie redete, denn ich hab noch halb geschlafen und zuerst an das Tagebuch und dann an das Päckchen Zigaretten gedacht, das ich in meinem Kleiderschrank versteckt habe.
»Ich meine das Glasding, die Träne«, fügte sie mit dringlicher Stimme hinzu.
Ehrlich gesagt überfiel mich in diesem Moment die Panik, denn ich war überzeugt, dass ich Ärger bekommen würde, weil ich mich verbotenerweise zum Haus von Rosaleens Mutter geschlichen habe. Wie gesagt, ich war noch im Halbschlaf und geschockt, weil Mum mitten in der Nacht in meinem Zimmer auftauchte – und mit mir redete! Gelegentlich hörte man die Bettfedern in Arthurs und Rosaleens Bett knarren, und ich fühlte mich von einer sonderbaren Angst gelähmt. Und deshalb … na ja, deshalb hatte ich nicht den Mut, Mum die Wahrheit zu sagen. Stattdessen hab ich ihr erzählt, dass ich die Träne irgendwo im Haus gefunden habe und sie so hübsch fand, dass ich sie behalten wollte.
Als ich ihr das gesagt habe, wusste ich plötzlich, was sich, abgesehen von der Tatsache, dass sie mit mir redete, an ihr verändert hatte. Es war das Leuchten, das plötzlich wieder in ihre Augen zurückgekehrt war und sie wieder lebendig machte. So lange hab ich das schon vermisst. Aber als ich sie angelogen habe, ist das Leuchten sofort erloschen, und ihre Augen waren wieder glanzlos, leer, leblos. Was auch immer es gewesen sein mag, was das Feuer in ihnen entfacht hat – ich hatte es wieder gelöscht. Ohne ein weiteres Wort hat sie mein Zimmer verlassen und ist zurück in ihr eigenes gegangen.
Kurz darauf hab ich gehört, wie Rosaleens Tür aufging. Schritte auf dem Korridor. Leise wurde meine Zimmertür geöffnet. Rosaleens langes weißes Nachthemd schimmerte im Mondlicht. Ein paar Minuten hat sie mich regelrecht verhört, weil sie anscheinend die Tür gehört hat und wissen wollte, was los war. Ich hab alles abgestritten, und sie hat mich eine Weile stumm und argwöhnisch angestarrt. Vermutlich hat sie überlegt, ob ich ihr die Wahrheit erzähle oder nicht. Schließlich hat sie entschlossen genickt, ist aufgestanden, rausgegangen und hat die Tür hinter sich zugemacht. Kurz darauf hörte ich die Bettfedern quietschen, und dann war wieder alles still.
Danach konnte ich nicht mehr schlafen. Ständig ist mir die Frage im Kopf herumgegangen, ob es falsch oder richtig war, dass ich Mum angelogen habe. Als das Morgenlicht in mein Zimmer fiel, wusste ich, dass ich einen Fehler gemacht habe. Ich hätte ihr einfach die Wahrheit sagen sollen.
Ich schreibe morgen wieder.
Nachdem ich den Eintrag gelesen hatte, war zum Glück noch reichlich Zeit, mir zu überlegen, was ich Mum in der kommenden Nacht sagen wollte. Den Tag über war ich ziemlich nervös, beobachtete Mum, wie sie stumm in den Tag hineinlebte, und dachte daran, dass der Bann bald gebrochen sein würde. Ich versuchte mich Wort für Wort an den Tagebucheintrag zu erinnern, schließlich wollte ich ja alles richtig machen. Ich hatte mir vorgenommen, genau die Dinge zu tun und zu sagen, die ich aufgeschrieben hatte, um die gleiche Reaktion zu erhalten. Mum sollte wirklich mitten in der Nacht in meinem Zimmer auftauchen, aber dann würde ich ihr die Wahrheit über die gläserne Träne sagen. Den ganzen Tag verbrachte ich in Wartestellung.
Nach dem Abendessen ging ich in Mums Zimmer hinauf. Sie lag auf dem Bett, starrte an die Decke und summte leise vor sich hin.
»Ich hab was für dich«, sagte ich, und meine Stimme war so heiser, dass ich mich selbst kaum hören konnte. Also begann ich noch einmal. »Ich hab was für dich.«
Sie summte unbeirrt weiter, während ich in meine Tasche griff, die Glasträne herausholte – weil ich sie so nah an meinem Körper aufbewahrt hatte, war sie ganz warm –, und auf Mums Nachttisch legte. Sie verfolgte meine Bewegung mit den Augen, ohne den Kopf zu drehen. Als sie das kleine Glaskunstwerk entdeckte, hörte sie augenblicklich auf zu summen, und auch ihre Finger, die vorher eine Haarsträhne gezwirbelt hatten, erstarrten mitten in der Bewegung.
»Hübsch, oder?«, fragte ich.
Sie blickte mich an, und nun konnte ich genau den Moment beobachten, in dem der Funke in ihre Augen trat. Dann starrte sie wieder die Glasträne an. Um dem Tagebucheintrag treu zu
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