Ich schreib dir morgen wieder
Plötzlich fauchte sie mich an, ich sollte mich gefälligst konzentrieren und nicht vor mich hin träumen, dabei hatte ich mich nur ein bisschen ausgeruht, weil ich genau sehen konnte, dass es mindestens eine Meile überhaupt kein Tor gab und es deshalb auch sinnlos war, nach einem Torhaus Ausschau zu halten. Das teilte ich Barbara auch mit. Doch sie hatte inzwischen die Grenze ihrer Belastbarkeit erreicht und schimpfte munter weiter, das würde ja wohl nichts anderes als »scheiß drauf« bedeuten, und wenn wir doch schon auf »beschissenen Straßen, die es nicht gibt« herumgondelten, könnte das »beschissene Torhaus«, das wir suchten, doch genauso gut auch »ein beschissenes Haus ohne ein beschissenes Tor« sein. Das Wort »beschissen« so oft aus Barbaras Mund zu hören, war ziemlich krass, denn normalerweise benutzt sie bestenfalls Ausdrücke wie »Pustekuchen« oder »Papperlapapp«, wenn sie sich ärgert.
Natürlich hätte Mum uns helfen können, aber sie saß auf dem Beifahrersitz und betrachtete stumm lächelnd die Landschaft. In meiner Verzweiflung legte ich den Mund ganz dicht an ihr Ohr – okay, ich sehe ein, dass das nicht richtig und auch nicht sehr schlau war, aber es fiel mir echt nichts Besseres mehr ein – und brüllte sie an, so laut ich konnte. Mum zuckte erschrocken zusammen, hielt sich die Ohren zu, und als sie den Schock überwunden hatte, begann sie mit beiden Händen auf mich einzudreschen, als wäre mein Kopf ein Bienenschwarm, den sie verscheuchen wollte. Es tat auch richtig weh. Sie zog mich an den Haaren, kratzte und ohrfeigte mich rechts und links, und ich schaffte es nicht, mich loszureißen. Jetzt hatte Barbara endgültig die Nase voll, fuhr an den Straßenrand und trennte Mum mit Gewalt von mir. Dann stieg sie aus und fing an, schluchzend am Straßenrand auf und ab zu wandern. Ich heulte ebenfalls, und mein Kopf dröhnte, weil Mum ihn so in die Mangel genommen hatte. Dort, wo ich herkomme, ist es Mode, die Haare wie einen Heuhaufen zu stylen, aber Mum hatte meinen sorgfältigen Aufbau total ruiniert, und ich sah aus wie aus der Klapsmühle ausgebrochen. Schließlich kletterte ich auch aus dem Auto, und nun saß Mum allein da, kerzengerade, und starrte wütend geradeaus.
»Komm her, Herzchen«, rief Barbara unter Tränen, als sie mich sah, und streckte mir die Arme entgegen.
Sie brauchte mich nicht zweimal zu bitten, ich sehnte mich nach einer Umarmung. Selbst wenn Mum gut drauf war, hatte sie kein großes Bedürfnis nach Körperkontakt. Sie war extrem schlank, immer auf Diät und hatte zum Essen die gleiche Beziehung wie zu Dad. Sie liebte es, wollte aber meistens nichts davon wissen, weil sie dachte, es wäre nicht gut für sie. Das weiß ich, weil ich mal ein Gespräch zwischen ihr und einer Freundin belauscht habe, als sie um zwei Uhr morgens von einem Ladies-Lunch zurückkam. Was das Umarmen anging, so war es ihr einfach unbehaglich, jemandem körperlich so nahe zu sein. Sie war selbst kein Mensch, der in sich ruhte, deshalb konnte sie auch keine Geborgenheit vermitteln. Genauso, wie man anderen auch keine Ratschläge geben kann, wenn man selbst ratlos ist. Ich glaube nicht, dass andere Menschen unwichtig für sie waren. Ich hatte nie das Gefühl, dass Gleichgültigkeit ihr Problem war. Na ja, manchmal vielleicht schon, aber bestimmt nicht immer und nicht grundsätzlich.
So standen Barbara und ich am Straßenrand, hielten einander im Arm und weinten, und Barbara entschuldigte sich immer wieder, weil das für mich alles so unfair sei. Als sie ausgestiegen war, hatte sie den Wagen ziemlich schräg stehen lassen, und er ragte ein ganzes Stück in die Straße, so dass sich jedes vorbeifahrende Auto verpflichtet fühlte, uns anzuhupen. Aber wir achteten einfach nicht darauf.
Danach hatte die Spannung etwas nachgelassen. Ihr wisst schon – wie sich die Wolken vor dem Regen zusammenballen, so ähnlich war es uns auf dem Weg von Killiney auch ergangen. Das Unwetter hatte sich zusammengebraut und schließlich entladen. Aber weil wir nun die Chance gehabt hatten, wenigstens einem Teil unseres Kummers Luft zu machen, konnten wir uns besser auf das einstellen, was vor uns lag. Wie sich herausstellte, hatten wir dazu allerdings nicht mehr wirklich Gelegenheit, denn als wir um die nächste Kurve bogen, waren wir am Ziel. Trautes Heim, Glück allein. Rechts war ein Tor und kurz dahinter, auf der linken Seite, ein Haus – das Hexenhäuschen. Und hinter dem kleinen grünen Gartentor
Weitere Kostenlose Bücher