Ich schreib dir morgen wieder
Optimismus als Mangel an Mitgefühl oder als Unfähigkeit zur Realitäts- bewältigung ausgelegt werden kann. Denn wenn alle absolut ehrlich wären, würde es jede Menge Krach und Streit geben – Schuldzuweisungen, Tränen und Geschrei.
Ich finde, es müsste einen Realitäts-Oscar geben. Und der Oscar für die beste Hauptdarstellerin geht an Alison Flanagan! Dafür, dass sie letzten Montag ordentlich geschminkt und geföhnt durch den Hauptgang im Supermarkt marschiert ist, obwohl sie eigentlich sterben wollte, und dabei sogar noch Sarah und Deirdre von der Elternvertretung freundlich angelächelt und sich überhaupt nicht so benommen hat, als wäre sie gerade von ihrem Ehemann mit drei Kindern sitzengelassen worden. Bitte, Alison, kommen Sie auf die Bühne und nehmen Sie Ihre wohlverdiente Auszeichnung entgegen! Der Preis für die beste Darstellerin in einer Nebenrolle geht an die Frau, wegen der Alisons Mann sie verlassen hat. Sie hat nur zwei Gänge weiter am Regal gestanden und so hastig den Supermarkt verlassen, dass sie zwei Zutaten für die Lieblings-Lasagne ihres neuen Freunds vergessen hat. Als bester Hauptdarsteller wird Gregory Thomas ausgezeichnet, und zwar für seine Leistung beim Begräbnis seines Vaters, mit dem er die letzten zwei Jahre kein Wort gewechselt hat. Bester Nebendarsteller ist Leo Mulcahy für seine Rolle als Trauzeuge bei der Hochzeit seines besten Freunds Simon mit der einzigen Frau, die Leo jemals wirklich geliebt hat und lieben wird. Kommen Sie und holen Sie Ihre Trophäe ab, Leo!
Damals dachte ich, Mum würde einfach die Rolle der guten Witwe spielen, aber als sich ihr Verhalten nicht änderte und ich immer mehr den Eindruck gewann, dass sie wirklich nicht wusste, was um sie herum abging, als sie die gleichen kleinen Worte und Seufzer einfach weiter bei jedem Gespräch benutzte, fragte ich mich, ob sie vielleicht bluffte. Ich frage mich immer noch, wie viel sie tatsächlich begreift und wann sie uns nur was vorspielt, um sich nicht mit der Wirklichkeit auseinandersetzen zu müssen. Dass sie sich unmittelbar nach Dads Tod sonderbar verhalten hat, ist ja verständlich. Aber als die anderen sich dann wieder ihrem eigenen Leben zuwandten, wurde sie nicht etwa langsam wieder normal, sondern driftete immer weiter ab, und offenbar war ich der einzige Mensch, der das bemerkte.
Es war keine überzogene Maßnahme der Bank, uns hochkant aus unserem Haus zu werfen. Man hatte meinem Dad das Datum der Zwangsräumung längst mitgeteilt, er hatte nur vergessen, die Information an uns weiterzugeben – genau wie er auch vergaß, uns Lebewohl zu sagen. Irgendwann hätten wir sowieso gehen müssen, und man ließ uns schon wesentlich länger bleiben als angedroht. Als es so weit war, konnten Mum und ich für eine Woche in Barbaras Haus unterschlüpfen, im hinteren Teil, wo sonst ihre philippinische Kinderfrau wohnt. Aber schließlich mussten wir da auch weg, weil Barbara den Sommer in ihrem Haus in St. Tropez verbringen wollte und offenbar befürchtete, wir würden ihr das Tafelsilber klauen, während sie uns nicht auf die Finger schauen konnte.
Obwohl ich vorhin gesagt habe, dass ich mir damals noch nicht solche Sorgen wegen Mum machte, heißt das nicht, dass ich ihren Zustand ganz locker hinnahm. Ich wollte ihr schon vor dem Umzug vorschlagen, einen Arzt aufzusuchen, aber jetzt denke ich, sie sollte sich in eine dieser Institutionen einliefern lassen, in denen die Leute den ganzen Tag planlos in hinten offenen Kittelhemdchen hin und her laufen oder dasitzen und vor- und zurückschaukeln. Aber als ich Barbara gegenüber erwähnte, dass ich fand, Mum sollte zum Arzt gehen, forderte sie mich ziemlich von oben herab auf, am Küchentisch Platz zu nehmen, und erklärte mir, das wäre nicht nötig, denn meine Mum würde lediglich einen »Trauerprozess« durchmachen. Ihr könnt euch wahrscheinlich vorstellen, wie sehr ich mich mit meinen sechzehn Jahren freute, diesen Begriff endlich kennenzulernen. Deshalb versuchte ich sie möglichst schnell abzulenken und schnitt das Thema Rumfummeln an. Aber sie ließ sich nicht darauf ein, sondern fragte mich, ob es mir was ausmachen würde, mich kurz auf ihren Koffer zu setzen, damit sie den Reißverschluss zuziehen konnte. Ansonsten ist Lulu für solche Dinge zuständig, aber die brachte grade die Kids zum Reiten und war daher nicht verfügbar. Als ich dann auf Barbaras vollgestopftem Louis-Vuitton-Koffer saß und sie ihre Bikinis mit Zebradruck, ihre goldenen
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