Ich schreib dir morgen wieder
wahrscheinlich die gesamte Garderobe der hier wohnenden Frau enthielt. Gleich neben der Tür entdeckte ich noch eine kleine Frisierkommode mit einem angelaufenen Spiegel, einer Haarbürste, einigen Medikamenten, einem Rosenkranz und einer Bibel, auch hier alles säuberlich in Reih und Glied. Gegenüber vom Bett war das Fenster, aus dem man in den Garten sah. Sonst war der Raum leer.
Behutsam schloss ich die Tür und ging weiter den Flur entlang. Der Boden war mit einer Plastikmatte bedeckt, als müsste er geschont werden, was beim Drübergehen ein seltsames Kratzgeräusch hervorrief, und ich wunderte mich, dass niemand auf mich aufmerksam wurde. Es sei denn, die Frau war wieder im Schuppen. Aber dann würde sie bestimmt Weseley sehen. Einen Moment erstarrte ich und wäre um ein Haar zurück nach draußen gelaufen, aber jetzt war ich schon so weit gekommen, ich konnte nicht mehr zurück. Schließlich erreichte ich die Stelle, wo der Flur nach rechts abknickte. Ganz hinten gab es noch eine Tür zum Fernsehzimmer, das ich ja schon durchs Fenster gesehen hatte. Da der Fernseher so laut lief, dass ich das Ticken der Uhr von
Countdown
hören konnte, saß dort vermutlich Rosaleens Mutter, und so neugierig ich auch auf sie war, hatte ich heute nicht das Bedürfnis, mich ihr vorzustellen. Ich hatte Dringenderes zu erledigen. Richtung Haustür war eine kleine Diele und links von mir ein weiteres Zimmer, vermutlich das zweite Schlafzimmer.
Ich klopfte so leise, dass ich es beim ersten Mal nicht mal selbst hörte – meine Fingerknöchel streiften das dunkle Holz nur leicht wie eine Feder. Doch beim zweiten Mal setzte ich etwas mehr Kraft ein und wartete dann ziemlich lange auf eine Reaktion. Aber nichts rührte sich.
Ich drehte den Türknauf. Auch diese Tür war unverschlossen und ging sofort auf.
In meiner hyperaktiven Phantasie hatte ich mir alles Mögliche ausgemalt, was hinter Rosaleens Geheimnissen stecken könnte, aber in der Realität hatten meine Entdeckungen mich jedes Mal enttäuscht. Was wir in der Garage gefunden hatten, war zwar interessant gewesen, und die Geheimniskrämerei um Arthurs und Mums langjährige Freundschaft mit Rosaleen tat mir zwar weh, aber es entsprach bei weitem nicht den dramatischen Szenarien, die ich mir ausgemalt hatte. Rosaleens Besuche im Bungalow hatten sich durch ihre kranke Mutter erklärt, die vermeintlichen Leichen in der Garage waren einfach nur die aus dem Schloss geräumten alten Sachen. Klar, das war aufregend, aber wenn ich es mit der Anspannung verglich, die Rosaleen oft verbreitete, auch etwas ernüchternd. Es wollte alles nicht so recht damit zusammenpassen, wie wichtig es ihr zu sein schien, ihre Geheimnisse zu bewahren.
Doch diesmal wurde ich nicht enttäuscht.
Diesmal wäre mir ein Siebziger-Jahre-Teppichboden, dunkle Holzverkleidung, ein feuchter Geruch und ein schlechteingerichtetes Schlafzimmer viel lieber gewesen. Denn was ich sah, schockierte mich so, dass ich wie versteinert stehen blieb und mit offenem Mund nach Luft schnappte.
Alle Wände waren vom Boden bis zur Decke mit Bildern gepflastert, mit Fotos von mir. Ich als Baby, ich bei der Erstkommunion, ich etwa dreijährig bei einem Besuch im Torhaus, ich mit vier, mit fünf, mit sechs Jahren. Ich bei meinen Schulaufführungen, bei meinen Geburtstagspartys und anderen Festen, als Blumenkind bei der Hochzeit einer Freundin von Mum, als Hexe verkleidet an Halloween. Eine Zeichnung, die ich in der ersten Klasse angefertigt hatte. Es gab sogar ein Foto von letzter Woche, auf dem ich auf der Mauer vor dem Torhaus saß, mit den Beinen baumelte und in die Sonne blinzelte. Außerdem ein Foto von mir und Marcus, als er das erste Mal zum Haus gekommen war, und an einem anderen Tag, wie wir in den Bus stiegen. Ein Foto von dem Morgen, als Mum, Barbara und ich im Torhaus eingetroffen waren. Ich mit schätzungsweise acht Jahren, auf der Straße zum Schloss, offenbar gelangweilt. Bestimmt unterhielt sich meine Mutter gerade bei Eiersandwiches und starkem Tee endlos mit Arthur und Rosaleen. Ein Foto von mir vor zwei Wochen, wie ich die Blumen auf Laurence Kilsaneys Grab legte. Wie ich zum Schloss spazierte. Fotos von mir mit Schwester Ignatius, wie ich mit ihr umherwanderte, beim Reden, beim Faulenzen im Gras, eins von mir im Schloss, an dem Morgen, als ich den Tagebucheintrag entdeckt hatte, mit geschlossenen Augen auf der Treppe, das Gesicht der Sonne zugewandt. Also war mein Gefühl, dass ich beobachtet wurde, doch richtig
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