Ich schreib dir morgen wieder
wahrscheinlich nicht, warum – oder?«
Ich schluckte schwer und schüttelte langsam den Kopf.
»Du bist eine schlechte Lügnerin«, stellte sie leise fest. »Genau wie deine Mutter.«
»Wag es nicht, so über meine Mutter zu sprechen!« Meine Stimme bebte.
»Ich wollte ihr nur helfen, Tamara«, sagte sie. »Sie konnte nicht schlafen, sie hat sich gequält. Die ganze Zeit hat sie die Vergangenheit in ihrem Kopf herumgewälzt und jedes Mal tausend Fragen gestellt, wenn ich ihr das Essen gebracht habe …« Jetzt redete sie nicht mehr mit mir, sondern mit sich selbst, beinahe dringlich, so, als versuche sie, sich von etwas zu überzeugen. »Ich hab es nur für sie getan. Nicht für mich. Und sie hat auch kaum was gegessen, also hat sie auch nicht viel davon abgekriegt. Ja, ich hab’s für sie getan.«
Mit gerunzelter Stirn hörte ich ihr zu, unsicher, ob es nicht besser war, sie zu unterbrechen. Während sie noch ganz in Gedanken versunken schien, griff ich nach den Briefen. Auf dem ersten stand die Adresse:
Arthur Kilsaney
Torhaus
Schloss Kilsaney
Kilsaney,
Meath
Der nächste Umschlag war gleich adressiert, aber sowohl an Arthur als auch an Rosaleen.
»Aber …« Verwundert schaute ich von einem Umschlag zum anderen. »Aber … ich …«
»Aber, aber, aber«, äffte Rosaleen mich nach, und ich bekam wieder eine Gänsehaut.
»Arthurs Nachname ist doch Byrne. Genau wie der von Mum«, sagte ich, und meine Stimme klang sogar in meinen eigenen Ohren furchtbar schrill.
Rosaleens Augen wurden groß, und sie lächelte. »So, so. Dann war das Kätzchen ja doch nicht ganz so neugierig, wie ich dachte.«
Ich nahm alle meine Energie zusammen und schaffte es aufzustehen. Rosaleen straffte die Schultern, hielt aber weiterhin einen Arm hinter dem Rücken versteckt.
Ratlos schaute ich auf die Briefe. Ich begriff einfach nicht, was das alles sollte.
»Mum ist keine Kilsaney. Sie heißt Byrne.«
»Stimmt. Sie ist keine Kilsaney und war auch nie eine Kilsaney. Aber sie wäre immer gern eine Kilsaney gewesen.« Sie musterte mich durchdringend. »Ihr ging es nur um den Namen. Sie wollte immer das, was ihr nicht gehörte, diese kleine Hexe«, stieß sie hervor. »Sie war ein bisschen wie du, ist immer genau dort aufgetaucht, wo man sie nicht haben wollte.«
Mir blieb der Mund offen stehen. »Rosaleen«, sagte ich leise. »Was … was ist denn los mit dir?«
»Was mit mir los ist? Gar nichts ist mit mir los. Ich hab nur die ganzen letzten Wochen gekocht und geputzt, hab mich um alle gekümmert, alles zusammengehalten, wie üblich, und das für zwei undankbare kleine …« – ihre Augen wurden weit, und dann riss sie den Mund auf und brüllte so laut, dass ich mir die Ohren zuhalten musste – »… LÜGNERINNEN !«
»Rosaleen«, rief ich entsetzt. »Hör auf! Was ist denn in dich gefahren?« Inzwischen hatte ich angefangen zu weinen. »Ich weiß wirklich nicht, was du meinst!«
»O doch, mein Kind«, zischte sie.
»Ich bin kein Kind, ich bin kein Kind, ich bin kein Kind!«, schrie ich, und die Worte, die ich im Kopf dauernd wiederholt hatte, kamen mit jedem Atemzug ein Stückchen lauter heraus.
»Natürlich bist du ein Kind! Und du hättest MEIN KIND sein sollen!«, kreischte sie. »Sie hat dich mir weggenommen! Du hättest mir gehören sollen. Genau wie er. Er hat mir gehört! Sie hat ihn mir weggenommen!« Dann sackte sie plötzlich in sich zusammen, als wäre ihre ganze Energie verpufft.
Ich schwieg und dachte angestrengt nach. Laurence Kilsaney konnte sie nicht meinen, denn er war ja gestorben, bevor ich auf die Welt gekommen war, nein, es musste jemand anderes sein …
»Mein Dad«, flüsterte ich. »Du warst in meinen Dad verliebt.«
Sie blickte zu mir auf, und in ihrem Gesicht war ein solcher Schmerz, dass ich beinahe wieder Mitgefühl mit ihr bekam.
»Deshalb ist Dad nie mitgefahren, wenn Mum euch hier besucht hat. Deshalb ist er immer in Dublin geblieben. Zwischen euch ist irgendwann früher etwas passiert.«
Auf einmal entspannte sich Rosaleens Gesicht, und sie begann zu lachen, leise zuerst, doch dann warf sie den Kopf zurück, und nun lachte sie aus vollem Hals.
»George Goodwin? Du machst Witze! George Goodwin war schon immer ein Loser, seit dem Augenblick, als er in seiner kleinen Angeberkutsche hier aufgetaucht ist, zusammen mit seinem ebenso aufgeblasenen Vater. Die wollten das Haus kaufen. ›Würde ein tolles Hotel abgeben, ein super Wellness-Center‹«, äffte sie ihn nach, und
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