Ich schreib dir morgen wieder
Fotos waren diese vier jungen Menschen zu sehen, in verschiedenen Altersstufen, immer dicht beisammen. Manchmal allein, manchmal als Pärchen, aber meistens alle zusammen. Mum war eindeutig die Jüngste, Rosaleen und Arthur im Alter näher zusammen und Laurence der Älteste, immer mit einem breiten Grinsen und einem schelmischen Funkeln in den Augen. Dagegen wirkte Rosaleen schon als junges Mädchen irgendwie »älter« – in ihren Augen schien immer eine gewisse Härte zu schlummern, ihr Lächeln war nie so breit und ungezwungen wie bei den anderen.
»Schau, hier sind sie alle vor dem Torhaus«, rief Weseley und deutete auf ein Bild von den vieren auf der Gartenmauer. An der Umgebung hatte sich nicht viel verändert, nur die Bäume im Garten waren inzwischen deutlich größer und voller geworden. Aber das Tor, die Mauer, das Haus – alles genau wie heute.
»Da ist Mum im Wohnzimmer. So sieht der Kamin heute noch aus.« Ich studierte das Bild intensiv. »Und das Bücherregal ist auch schon da. Schau dir das Schlafzimmer an«, sagte ich atemlos. »In dem wohne ich jetzt. Aber ich verstehe das immer noch nicht ganz. Mum muss tatsächlich hier gewohnt haben, sie ist hier aufgewachsen.«
»Und davon wusstest du nichts?«
»Nein«, antwortete ich kopfschüttelnd und spürte plötzlich, dass ich Kopfschmerzen bekam. Mein Gehirn konnte keine neuen Informationen mehr aufnehmen, es brauchte endlich Antworten. »Ich meine, ich wusste, dass sie auf dem Land gelebt hat, aber … ich kann mich erinnern, dass mein Granddad immer hier war, wenn wir ganz früher, als ich noch klein war, Arthur und Rosaleen besucht haben. Meine Grandma ist gestorben, als Mum noch ein Kind war. Ich dachte, er wäre auch zu Besuch bei Arthur und Rosaleen, aber … meine Güte, was hat das zu bedeuten? Warum haben sie mich alle angelogen?«
»Aber sie haben dich nicht wirklich belogen, oder?«, versuchte Weseley mich zu beschwichtigen. »Sie haben dir nur nicht gesagt, dass sie hier gewohnt haben. Das ist nicht gerade das aufregendste Geheimnis der Welt.«
»Und sie haben mir nicht erzählt, dass sie Rosaleen praktisch schon ihr Leben lang kennen, dass Mum im Torhaus gewohnt und die Kilsaneys gekannt hat. Keine große Sache, klar, aber wenn man es geheim hält, wird es doch gleich viel wichtiger. Warum haben sie denn ein Geheimnis daraus gemacht? Was haben sie mir sonst noch alles verschwiegen?«
Weseley begann wieder zu blättern, als könnte er die Antworten in dem Album finden. »Hey, wenn dein Granddad im Torhaus gewohnt hat, dann war er hier der Gärtner und Grundstücksverwalter. Also Arthurs Vorgänger.«
Auf einmal schoss mir ein überraschendes Bild durch den Kopf. Ich war noch klein, mein Granddad kniete auf dem Boden und buddelte im Schlamm. Ich erinnerte mich an den Dreck unter seinen Fingernägeln und an einen Wurm, der in der Erde herumzappelte, und ich erinnerte mich, wie Granddad ihn packte und vor meiner Nase herumschwenkte. Ich heulte, er lachte, und dann nahm er mich in den Arm. Er roch immer nach Erde und nach Gras. Seine Fingernägel waren immer schmutzig.
»Ich frage mich, ob es auch ein Foto von der Frau gibt«, sagte ich und blätterte weiter.
»Von welcher Frau?«
»Von der Frau im Bungalow, die die Glassachen macht.«
Wir studierten die folgenden Seiten, und mein Herz pochte so laut in meiner Brust, dass ich Angst hatte umzukippen. Noch ein Foto von Rosaleen und Laurence tauchte auf. »Rose und Laurie, 1987.«
»Ich glaube, Rosaleen war in Laurence verliebt«, sagte ich und strich behutsam mit dem Finger über die beiden Gesichter.
»Oh-oh«, meinte Weseley und schlug die nächste Seite auf. »Aber Laurence hat Rosaleen anscheinend nicht zurückgeliebt.«
Als ich das nächste Foto sah, riss ich die Augen auf. Auf dem Bild war Mum, als Teenager, wunderschön mit ihren langen blonden Haaren, dem strahlenden Lächeln, den makellosen Zähnen. Neben ihr war Laurence: Er hatte den Arm um sie gelegt und küsste sie auf die Wange – unter dem Baum mit den vielen geschnitzten Inschriften.
Ich drehte das Foto um, und da stand: »Jen und Laurie, 1989.«
»Vielleicht waren sie ja nur Freunde …«, sagte Weseley langsam.
»Schau sie dir doch an, Weseley.«
Mehr brauchte ich nicht zu sagen, der Rest war deutlich sichtbar, direkt vor unseren Augen. Die beiden waren ineinander verliebt.
Ich dachte daran, was Mum mir an dem Tag gesagt hatte, als ich aus dem Rosengarten zurückkam und gerade Schwester Ignatius
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