Ich schreib dir morgen wieder
mich wahnsinnig machte. Nicht wegen der ganzen gruseligen Details – da hatte ich schon Schlimmeres gesehen –, sondern weil sie sich so dafür interessierte, wie man ein Verbrechen vertuschen konnte. Wahrscheinlich bringt sie uns irgendwann um, wenn wir schlafen, dachte ich immer. Aber sie machte auch den besten Latte macchiato, und deshalb bohrte ich nicht zu sehr nach. Womöglich wäre sie beleidigt gewesen und hätte sich in Zukunft geweigert, mir ihren leckeren Kaffee zu kochen. Aber aus diesen Sendungen erfuhr ich, dass das Wort »clue« – also Hinweis – tatsächlich von »clew« kommt, was ein Fadenknäuel ist. Es gibt nämlich in der griechischen Mythologie eine Legende, in der so ein Typ ein Fadenknäuel benutzt, um den Weg aus dem Labyrinth des Minotaurus zu finden. Ein »clue« hilft einem also, das Ende von etwas zu finden – oder vielleicht auch den Anfang. Er ist vergleichbar mit Barbaras Navi oder mit den Brotkrümeln, die ich von Killiney bis zum Torhaus ausstreuen wollte: Manchmal hat man einfach keine Ahnung, wo man ist, und man braucht jeden Hinweis, der einen auf die richtige Spur bringt.
Endlich gab das Schloss, an dem Schwester Ignatius herumwerkelte, nach und ging auf.
»Schwester Ignatius, Sie haben ja ungeahnte Talente«, neckte ich sie.
Sie lachte herzlich. Als sie den schweren Einband von meinem Buch hob, klopfte mir das Herz bis zum Hals. Die Stimmen von Zoey und Laura flüsterten mir ins Ohr, das hier sei echt peinlich, und einen Moment lang war es mir das auch, aber die Tamara dieser neuen Welt vertrieb die beiden Miesmacherinnen energisch. Doch als Schwester Ignatius das Buch aufschlug, kehrte die Verlegenheit zurück. Und ich ärgerte mich. Denn das Buch war leer. Kein Wort stand darin, nichts, rein gar nichts, nur unbeschriebene Seiten.
»Hm … tja, schau dir das an«, sagte Schwester Ignatius, während sie durch die dicken eierschalenfarbenen Seiten mit dem Büttenrand blätterte, die aussahen, als kämen sie aus einer anderen Zeit. »Leere Seiten, die darauf warten, gefüllt zu werden«, fuhr sie mit ihrer überraschten Stimme fort.
»Wie aufregend«, grummelte ich und verdrehte die Augen.
»Aufregender, als wenn das Buch vollgeschrieben wäre. Dann könntest du es nicht benutzen.«
»Aber ich könnte es lesen. Das tut man normalerweise mit einem Buch«, blaffte ich und spürte wieder einmal eine große Enttäuschung über meine neuen Lebensumstände.
»Wäre es dir lieber, wenn man dir ein Leben geben würde, das schon jemand gelebt hat, Tamara? Dann kannst du dich zurücklehnen und beobachten. Oder möchtest du lieber selbst leben?«, fragte sie, und ihre Augen lächelten.
»Ach, wissen Sie, Sie können das Buch behalten«, sagte ich und machte einen Schritt zurück. Mein Interesse an dem Buch, das ich so lange im Arm gehalten hatte, war komplett verflogen, so enttäuscht war ich.
»Nein, Liebes. Es gehört dir. Benutz es.«
»Aber ich schreibe nicht. Ich hasse schreiben. Davon kriege ich Schwielen an den Fingern. E-Mails sind mir lieber. Und überhaupt – ich kann es gar nicht benutzen, es gehört der mobilen Bibliothek. Marcus will es bestimmt zurückhaben. Ich muss mich mit ihm treffen und es ihm wiedergeben.« Auf einmal merkte ich, dass meine Stimme beim letzten Satz viel sanfter geworden war. Und ich musste mir ein Lächeln verkneifen.
Natürlich bekam Schwester Ignatius alles mit, und auch sie lächelte und zog die Augenbrauen hoch. »Na ja, du kannst dich doch mit Marcus treffen, um
über das Buch zu diskutieren
«, meinte sie scherzhaft. »Er wird genau wie ich zu dem Schluss kommen, dass wahrscheinlich jemand der Bibliothek ein Tagebuch gespendet hat, weil er es irrtümlicherweise für ein gewöhnliches Buch gehalten hat.«
»Verstoße ich gegen irgendwelche Gebote, wenn ich reinschreibe?«
Schwester Ignatius rollte mit den Augen, wie ich es vorhin getan hatte, und trotz meiner schlechten Laune musste ich grinsen.
»Aber ich habe nichts, was sich aufzuschreiben lohnt«, sagte ich, wieder etwas sanfter.
»Es gibt immer etwas, worüber man schreiben kann. Über deine Gedanken zum Beispiel. Ich bin sicher, davon hast du eine ganze Menge.«
So nahm ich das Buch schließlich wieder an mich, natürlich nicht, ohne klarzustellen, dass ich mich eigentlich überhaupt nicht dafür interessierte und dass Tagebuchschreiben nur etwas für Volldeppen war. Aber so viel ich auch quasselte, war ich doch sehr erleichtert, als ich das Buch wieder im Arm
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