Ich schreib dir morgen wieder
hielt. Es fühlte sich irgendwie richtig an.
»Schreib über das da oben«, schlug Schwester Ignatius vor und tippte sich an die Schläfe. »Ein kluger Mann hat das mal seinen geheimen Garten genannt. Und den haben wir alle.«
»War der kluge Mann vielleicht Jesus?«
»Nein, Bruce Springsteen.«
»Ihren geheimen Garten hab ich aber heute gefunden«, lächelte ich. »Jetzt ist er nicht mehr geheim, Schwester Ignatius.«
»Ah, siehst du! Es ist immer gut, ihn mit jemandem zu teilen.« Sie deutete auf das Buch. »Oder mit etwas.«
Kapitel 9
Ein langer Abschied
Es wurde schon Abend, als ich mich mit knurrendem Magen auf den Rückweg zum Torhaus machte. Seit den amerikanischen Pfannkuchen mit Blaubeeren, dem Lunch bei Zoeys Mutter, hatte ich nichts mehr gegessen. Wie üblich stand Rosaleen an der offenen Tür und blickte mit besorgtem Gesicht die Straße hinauf und hinunter, als hielte sie angestrengt Ausschau nach mir. Wie lange sie das wohl schon machte?
Als sie mich entdeckte, richtete sie sich auf und strich sich ihr Kleid glatt, das heute schokoladenbraun war, mit einer grünen Ranke, die sich vom Saum zum Halsausschnitt emporschlängelte. Ganz nah am Busen flatterte ein Kolibri, und ich entdeckte noch einen an ihrer linken Pobacke. Ob der Designer das so beabsichtigt hatte, wusste ich natürlich nicht, aber bei Rosaleens Größe blieb dem Muster gar nichts anderes übrig.
»Na, da bist du ja endlich, Kind.«
Am liebsten hätte ich sie angefaucht, dass ich längst kein Kind mehr war, aber ich biss die Zähne zusammen und lächelte. Ich musste unbedingt toleranter werden mit Rosaleen. Mich zur Abwechslung mal benehmen, als wäre ich Tamara Good.
»Dein Abendessen steht im Ofen. Wir konnten nicht mehr warten, weil mein lieber Mann schon solchen Hunger hatte, dass ich sein Magenknurren von der Ruine bis hierher gehört habe.«
An ihrer Bemerkung störten mich diverse Dinge. Erstens, dass sie sich so affig um die Erwähnung von Arthurs Namen drückte, zweitens, dass unser Gespräch sich mal wieder ums Essen drehte, und drittens, dass sie das Schloss als Ruine bezeichnete. Aber statt mit dem Fuß aufzustampfen, lächelte Tamara Good wieder nur und sagte sehr freundlich: »Danke, Rosaleen. Ich freue mich schon aufs Essen und komme gleich runter.«
Dann wollte ich die Treppe hinaufgehen, aber plötzlich machte Rosaleen eine Bewegung, eine Art Zusammenzucken, wie von einem Sportler, der auf den Startschuss wartet, und ich hielt inne. Ich sah sie nicht an, sondern wartete nur auf ihren Kommentar.
»Deine Mutter schläft, du solltest sie nicht stören.« Inzwischen hatte sie den stammelnden, einschmeichelnden Ton abgelegt. Ich wurde nicht schlau aus ihr, aber sie wahrscheinlich auch nicht aus mir. Tamara Nicht-mehr-ganz-Good ignorierte sie, und obgleich Rosaleens durchdringender Blick mir fast den Rücken versengte, ging ich weiter nach oben und klopfte leise an Mums Tür. Da ich von Mum ohnehin keine Reaktion erwartete, ging ich hinein, ohne eine Antwort abzuwarten.
Im Zimmer war es dunkler als vorher. Die Vorhänge waren geschlossen, aber es lag hauptsächlich an der Sonne, die zum Abend hin hinter den Bäumen versunken war, dass es kühler und schummriger war. Irgendwie erinnerte meine Mum mich plötzlich an eine Mumie. Die gelbe Decke war bis über die Brust hochgezogen, die Arme seitlich darunter eingeklemmt, als hätte eine Riesenspinne sie eingewickelt, um sie später zu töten und zu verspeisen. Ich konnte mir nur vorstellen, dass Rosaleen das gemacht hatte, denn für Mum wäre es unmöglich gewesen, sich selbst zu mumifizieren. Kurz entschlossen lockerte ich die Decke, zog Mums Arme heraus und kniete mich neben sie. Ihr Gesicht wirkte friedlich, als bekäme sie gerade in ihrem Lieblings-Spa eine Körpermaske mit Crème fraîche und Joghurt. Aber sie war so still, dass ich mein Ohr ganz dicht an ihr Gesicht halten musste, um mich zu vergewissern, dass sie überhaupt noch atmete.
Nachdenklich betrachtete ich sie, ihre blonden Haare auf dem Kissen, die langen Wimpern, die makellose Haut. Ihre Lippen waren kaum merklich geöffnet, und sie atmete sanft, süß und warm durch den Mund.
Vielleicht vermittle ich beim Erzählen meiner Geschichte den falschen Eindruck von meiner Mutter. Wenn man sie sich als trauernde Witwe vorstellt, die in einem Morgenmantel mit Glockenärmeln im Schaukelstuhl sitzt und stupide aus dem Fenster starrt, denkt man womöglich, sie wäre alt. Dabei ist sie keineswegs alt. Und sehr
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