Ich schreib dir morgen wieder
beobachtete die Nonne verstohlen über die Schulter.
»Was ist denn passiert, Tamara?«
»Das wissen Sie doch längst.«
Als ich mich umschaute, sah ich, wie ihre Augen für einen Moment schmal und dann ganz groß wurden. Also hatte sie etwas gemerkt. Sie wusste etwas, eindeutig, denn sie sah aus, als fühle sie sich ertappt.
»Geben Sie es ruhig zu.«
»Tamara«, begann sie, unterbrach sich und suchte nach den richtigen Worten. »Tamara, schau mich an. Ich … lass mich erklären … wir sollten uns lieber anderswo unterhalten. Nicht hier. Nicht im Gewächshaus. Nicht, solange du in diesem Zustand bist.«
»Nein, erst möchte ich, dass Sie es zugeben.«
»Tamara, ich glaube wirklich, wir sollten zu mir gehen und …«
»Geben Sie zu, dass Sie es geschrieben haben!«, fauchte ich, ohne darauf einzugehen.
Augenblicklich veränderte sich ihr Gesicht, und sie sah mich total verwirrt an. »Tamara, wovon sprichst du? Was soll ich zugeben? Was habe ich geschrieben?«
»Das Tagebuch«, explodierte ich und hielt ihr das Buch unter die Nase. »Sehen Sie, da steht alles Mögliche! Ich hatte das Buch in meinem Zimmer versteckt, aber heute Morgen hab ich es mit ins Schloss genommen, weil ich was reinschreiben wollte, so, wie Sie es mir gesagt haben, und jetzt schauen Sie sich das an! Wie haben Sie das gemacht?« Ich blätterte wild in dem Buch herum und verwischte mit meinen nassen Händen die Tinte. Schwester Ignatius blinzelte heftig und bemühte sich, etwas auf den vorbeiflatternden Seiten zu erkennen.
»Tamara, beruhige dich, ich kann überhaupt nichts sehen, du blätterst viel zu schnell.«
Aber ich machte nur noch schneller, bis Schwester Ignatius schließlich die Arme ausstreckte, mit ihren dicken, kräftigen Händen meine Handgelenke packte und sagte: »Tamara, hör auf damit.«
Es funktionierte. Gehorsam ließ ich mir das Tagebuch aus den Händen nehmen, sie schlug die erste Seite auf, und ihre Augen flitzten über die Anfangszeilen.
»Das ist nicht für mich bestimmt, deine privaten Gedanken gehen mich nichts an.«
»Aber ich hab das nicht geschrieben.« Inzwischen war mir klar, dass sie es auch nicht gewesen war. Die Verwirrung auf ihrem Gesicht war echt, sie konnte nicht gespielt sein.
»Tja … wer dann?«
»Ich weiß es nicht. Schauen Sie sich doch mal das Datum auf der ersten Seite an.«
»Da steht das Datum von morgen.«
»Ja, und es geht um lauter Dinge, die erst morgen passieren.«
Der Regen trommelte so laut auf das Glasdach des Gewächshauses, dass ich Angst hatte, es könnte kaputtgehen.
»Woher weißt du das, wo du morgen doch noch gar nicht erlebt hast?«
Ihre Stimme war weicher geworden, beinahe so, als wollte sie eine Geisteskranke beschwichtigen, die ein Messer in der Hand hielt. Möglicherweise war das auch ihre Absicht, nur hatte ich das Messer nicht in die Hand genommen, sondern jemand hatte es mir gegeben. Ich konnte nichts dafür.
»Vielleicht bist du mitten in der Nacht aufgestanden, hast was aufgeschrieben, warst aber noch so verschlafen, dass du dich nicht mehr daran erinnerst, Tamara. Ich hab im Halbschlaf schon oft sehr merkwürdige Dinge getan. Beispielsweise bin ich im Haus rumgewandert und hab etwas gesucht, ohne zu wissen, was. Oder ich habe irgendwas weggeräumt und hatte am nächsten Morgen total vergessen, wohin. Das war vielleicht ein Kuddelmuddel.« Sie lachte leise in sich hinein.
»Das ist nicht das Gleiche«, entgegnete ich leise. »Ich habe über Dinge geschrieben, die ich nicht wissen konnte. Über den Platzregen, der grade niedergegangen ist, über Rosaleen und die Jacke, über Sie …«
»Was ist mit mir?«
»Ich habe geschrieben, dass Sie hier sein würden.«
»Aber ich bin immer hier, Tamara, das weiß du doch.«
Schwester Ignatius redete und redete und versuchte verzweifelt, mir das Phänomen vernünftig zu erklären. Zur Bekräftigung erzählte sie mir die Geschichte, wie sie einmal nachts zu Schwester Mary ins Zimmer gestürmt war, um nach ihren Gartenhandschuhen zu fahnden, weil sie geträumt hatte, dass sie Steckrüben anpflanzen wollte. Schwester Mary hatte natürlich einen Höllenschrecken bekommen. Aber ich hörte ihrem Geplapper nur noch mit halbem Ohr zu. Wie sollte ich denn fünf Seiten vollgeschrieben haben, ohne mich im Geringsten daran zu erinnern? Und wie hätte ich den Regen vorhersagen können? Oder dass Rosaleen mit der Regenjacke auftauchen und Schwester Ignatius hier im Gewächshaus mit einem zusätzlichen Imkeranzug auf
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