Ich schreib dir morgen wieder
da gerade unter der Dusche. Ich hätte bei ihrer Unterhaltung gerne Mäuschen gespielt. Dann hat Rosaleen mich ausgequetscht, worüber ich mit Schwester Ignatius geredet habe. Ehrlich, das war ganz schön heftig, und sogar Arthur schien sich dabei unbehaglich zu fühlen. Ich meine, hat Rosaleen gedacht, ich lüge sie an? Wirklich seltsam. Ich hätte ihr vielleicht lieber nicht erzählen sollen, was ich über das Schloss erfahren habe. Jetzt weiß ich, dass ich die Informationen, die ich brauche, von ihr ganz bestimmt nicht kriege. Vermutlich sind Rosaleen und Arthur einfach anders als andere Menschen. Vielleicht bin auch ich die, die anders ist. So habe ich das bisher nie gesehen. Aber vielleicht lag es schon immer an mir.
Falls ich an Dehydrierung sterbe und jemand dieses Tagebuch findet, sollte ich erwähnen, dass ich jede Nacht weine. Ich stehe den Tag durch und halte mich, mal abgesehen von kleinen Zusammenbrüchen wie denen wegen der Fliege und des zerstörten Schlosses, ziemlich gut, aber sobald ich ins Bett krieche, sobald es still und dunkel wird, da dreht sich alles um mich herum. Und ich fange an zu weinen. Manchmal so lange, dass mein Kissen hinterher ganz nass ist. Die Tränen fließen mir aus den Augenwinkeln, laufen an den Ohren vorbei, kitzeln mich am Hals, landen manchmal sogar auf meinem T-Shirt, aber ich lasse ihnen freien Lauf. Inzwischen habe ich mich so ans Weinen gewöhnt, dass ich es manchmal kaum merke. Klingt das unsinnig? Früher habe ich geheult, wenn ich hingefallen bin und mir wehgetan habe oder weil ich mich mit Dad gestritten hatte oder wenn ich total betrunken war und mich die kleinste Kleinigkeit durcheinandergebracht hat. Aber jetzt … jetzt bin ich traurig, also weine ich. Manchmal fange ich an und höre gleich wieder auf, weil ich mir einrede, dass alles gut wird. Aber manchmal glaube ich mir das nicht und weine einfach weiter.
Ich träume oft von Dad. Allerdings ist es selten wirklich Dad, der in meinem Traum erscheint, sondern eine Mischung aus ganz verschiedenen Gesichtern. Er fängt beispielsweise an als er selbst, dann wird er ein Lehrer aus meiner Schule, dann Zac Efron und schließlich irgendein weitläufiger Bekannter, zum Beispiel der Pfarrer oder so. Ich habe gehört, dass manche Leute sagen, wenn sie von einem Toten träumen, den sie geliebt haben, dann haben sie das Gefühl, das ist die Realität, der geliebte Mensch ist wirklich da, überbringt ihnen Botschaften, nimmt sie in den Arm. Sie meinen, dass Träume so eine Art Zwischenstufe zwischen dem Diesseits und dem Jenseits sind, vergleichbar mit dem Besuchsraum im Gefängnis. Man ist zwar im selben Zimmer, aber in getrennten Welten. Ich dachte immer, Leute, die so was von sich geben, sind Scharlatane oder religiöse Fanatiker. Aber jetzt weiß ich, dass das auch zu meinen zahlreichen Irrtümern gehört. Es hat rein gar nichts mit Religion zu tun, auch nichts mit psychischer Labilität, sondern mit einem natürlichen menschlichen Instinkt, nämlich dass man hofft, auch wenn es eigentlich keine Hoffnung mehr gibt – es sei denn, man ist ein ausgekochter Zyniker. Es hat mit Liebe zu tun, damit, dass man einen geliebten Menschen verloren hat, der wie ein Teil von einem selbst war, und dass man nahezu alles dafür tun würde, ihn zurückzubekommen. Es ist die Hoffnung, dass man diesen Menschen eines Tages wiedersieht, dass man sich ihm noch immer nahefühlen kann. Früher habe ich geglaubt, Hoffnung ist ein Zeichen von Schwäche. Aber das stimmt nicht, im Gegenteil – es ist die Hoffnungslosigkeit, die schwach macht. Hoffnung macht stark, denn durch sie beginnt man langsam, einen Sinn in dem zu erkennen, was geschehen ist. Nicht unbedingt den Sinn, warum man den geliebten Menschen verloren hat, sondern eher den Sinn dessen, dass man selbst weiterlebt. Denn die Hoffnung ist ein Vielleicht. Ein »Vielleicht sind die Dinge irgendwann nicht mehr so beschissen«. Und dieses Vielleicht macht alles sofort ein bisschen leichter.
Ich dachte, man würde immer zynischer, je älter man wird. Ich selbst habe mich schon im Kreißsaal misstrauisch umgesehen, von einem Gesicht zum anderen, und auf Anhieb war mir klar, dass mir dieses neue Szenario nicht gefiel und ich lieber zurück in den Bauch wollte. Mit dieser Einstellung habe ich dann weitergelebt. Wo ich auch war, es war beschissen, und anderswo war es besser. Wobei dieses Anderswo meist hinter mir lag, in der Vergangenheit. Erst jetzt, wo mir das Leben in seiner ganzen
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