Ich sehe dein Geheimnis
Kommissar Toscano?«
Er sah mich an. »Ja, Miss Fern?«
»Dürfte ich einen Augenblick mit meinem Bruder sprechen? Sein Anwalt müsste bald hier sein. Ich will nur sehen, ob es ihm gut geht.«
Er sah mich mit einem seltsamen Blick an. War es Mitleid? »Natürlich. Folgen Sie mir.«
Ich musste beinahe rennen, um mitzuhalten. Er machte wirklich riesige Schritte. Da er schwieg, sah ich mir den Gang genauer an. Flackernde Neonröhren an der Decke, eine verbrannte Stelle auf dem Vinylboden, graue Wände, die nach frischer Farbe schrien.
Der Kommissar blieb so abrupt stehen, dass ich beinahe mit ihm zusammengestoßen wäre. »Sie haben zwei Minuten.« Er öffnete die Tür.
Beim Geräusch der Tür schreckte Perry hoch, beruhigte sich aber, sobald er mich sah. Ich versuchte zu lächeln, aber er hätte mich ohnehin durchschaut. Ich wusste nicht, ob ich ihn umarmen durfte oder nicht. Alles fühlte sich so unwirklich an, als seien wir Opfer eines ausgefeilten Streichs.
Schön wär’s.
Ich setzte mich ihm gegenüber. »Geht es dir gut?«
Er zuckte die Schultern.
»Behandeln sie dich angemessen?«
»Ja. Sie haben noch nicht viel getan. Ich habe eine Cola bekommen.«
»Wurdest du noch nicht verhört?«
»Ich glaube, sie warten auf einen Anwalt.«
»Das muss Mr Spellman ihnen gesagt haben. Sein Anwalt wird dich vertreten. Er ist auf dem Weg hierher. Wahrscheinlich beginnen sie mit dem Verhör, sobald er hier ist.«
Er nickte und starrte auf seine Hände. Sein Gesicht sah grünlich aus. Mit einer Wahrscheinlichkeit von fünfzig Prozent würde er gleich auf den Tisch kotzen.
»Alles wird gut, Perry.«
»Das kannst du nicht wissen«, flüsterte er.
»Du hast das nicht getan, oder?« Ich unterdrückte das Zittern in meiner Stimme.
»Nein.« Er sah mir direkt in die Augen. »Habe ich nicht.«
Ich schob alle Zweifel beiseite und konzentrierte mich darauf, ihm zu helfen. Ich nahm seine Hände in meine. »Sie können dich nicht dafür verantwortlich machen, wenn du es nicht warst.«
»Natürlich können sie. So etwas kommt ständig vor.«
»Nur in Filmen und Krimis.« Ich wusste, dass das nicht ganz stimmte.
Perry antwortete nicht. Er blickte nur starr zu Boden. Ich suchte verzweifelt nach Worten, fand aber keine und hielt einfach weiter seine Hände. So saßen wir schweigend da, bis Kommissar Toscano zurückkam und mir sagte, die Zeit sei um.
Er brachte mich zurück ins Wartezimmer. Gabriel war verschwunden. Ein gediegener älterer Herr im Anzug sprach leise mit meiner Mutter. Sie wirkte entsetzt.
Ich ging zu den beiden hinüber. »Was ist los?«
Der Mann sah mich fragend an.
»Das ist meine Tochter Clarity«, sagte Mom. »Und das ist Mr Nelson, Perrys Anwalt.«
»Angenehm«, sagte ich, obwohl ich gerne auf die Höflichkeiten verzichtet hätte. Ich wollte sofort wissen, was los war.
»Es gibt ein Problem«, sagte Mom. »Bei der Durchsuchung wurde etwas gefunden.«
»Die Mordwaffe? Sie muss uns untergeschoben worden sein! Es ist unmög-«
»Nein, nicht die Waffe«, unterbrach Mr Nelson. Er stand sehr gerade und sprach leise, aber bestimmt. »Sie haben das Überwachungsvideo vom Restaurantparkplatz gefunden. Und zwar das, auf dem zu sehen ist, wie dein Bruder mit dem Opfer in der Mordnacht wegging.«
Das gestohlene Video. Perry war so dämlich! »Er hat es wahrscheinlich an sich genommen, damit niemand ihn mit Victoria sieht und denkt, er habe es getan«, sagte ich. »Und er hat es nicht getan.«
»Aber er hat noch einen Anhaltspunkt dafür gegeben, dass er es getan haben könnte. Er hat das Band entwendet und versteckt. Damit wollte er etwas verschleiern.« Er seufzte. »Ich wünschte, er hätte es nicht gestohlen. Das macht die ganze Sache viel komplizierter.«
»Ich muss das Video sehen. Vielleicht ist der wahre Mörder darauf.«
»Clarity«, sagte Mr Nelson, »der Polizei zufolge wurde der wahre Mörder bereits gefasst.«
Der Anwalt wiederholte immer wieder, wir könnten im Augenblick nichts tun und sollten besser nach Hause gehen. Und dass er uns anriefe, sobald klar wäre, ob Perry verhaftet wurde oder gehen konnte. Das könnte einige Stunden dauern.
Mom ging heim, aber ich konnte das nicht. Die Aussicht, in der Diele auf und ab zu gehen und den unmittelbar bevorstehenden Nervenzusammenbruch meiner Mutter mitzuerleben, war nicht besonders reizvoll. Also ging ich an den einzigen Ort, an dem ich Ruhe fand: zum Strand.
Der Stand der Sonne zeigte mir, dass es bereits Nachmittag war. Ich hatte noch
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