Ich sehe dich
sich gerade seine Chancen ausrechnet? Ich stelle mir vor, was er denkt. Würde ich ihn wirklich umbringen? Nein, ich doch nicht, ich wäre dazu nicht fähig, bei mir selbst habe ich es ja auch nicht geschafft. Zweimal. Was hat er damals gesagt? Selbst dazu sei ich zu blöd. Wahrscheinlich rechnet er damit, dass ich in spätestens fünf Minuten zusammenbrechen, ihn befreien und um Verzeihung bitten werde. Ist da nicht schon ein triumphierendes Glitzern in seinen Augen? Oh nein! Heute nicht. Du wirst nicht gewinnen, nicht dieses Mal. Ich stehe auf und gehe mit festem Schritt zur Badewanne.
»Wasser recht so, mein Schatz?« Diesmal versagt meine Stimme nicht, sie klingt zuckersüß. Ich hebe den kleinen tragbaren Fernseher hoch, der auf einem Stuhl neben der Wanne steht, und halte ihn über die Wanne. »Wie einfach es jetzt wäre, ihn fallen zu lassen.«
Seine Augen treten wild hervor. Er schüttelt den Kopf, bäumt sich auf.
»Keine Angst, Schatz! Dann wäre ja der Fernseher kaputt, das wäre doch jammerschade, nicht?« Ich stelle den Fernseher wieder an seinen Platz und schalte mein Lieblingsprogramm ein.
Astrokanal.
Er hasst Astrokanal.
Die Moderatorin legt Tarotkarten vor sich aus. Die siebte Karte steht für den Tod. Sie schaut erschrocken aus dem Fernseher, direkt in seine Richtung.
»Ich spüre, dass du dich in Gefahr begeben hast. Aber es ist nicht zu spät. Ich kann dir helfen, ruf mich an. Ruf an. Noch kannst du es abwenden«, sagt die Moderatorin besorgt.
Das Wasser erreicht seine Brust. Er bewegt sich kaum noch. Ob er aufgegeben hat? Oder ist seine Körpertemperatur so stark gesunken, dass er bewegungsunfähig ist?
»0190 555 333. Ruf mich an. Das ist deine Chance.« Die eindringliche Stimme der Moderatorin tönt aus dem Gerät. Geduldig rückt sie die Karten gerade, während die kostenpflichtige Telefonnummer auf gelbem Untergrund eingeblendet wird.
»Du hast doch Recht gehabt.« Ich imitiere seine Stimme. »Die reden nur Schwachsinn.«
Ich schalte den Fernseher aus.
»Dir kann niemand mehr helfen«, flüstere ich.
Leos Kinn wird vom Wasser umspielt. Ob er versuchen wird, sich zu recken, um so lange wie möglich Mund und Nase über Wasser zu halten? Wie lange es wohl dauern wird, bis er ganz versinkt? Ich öffne die Tüte mit den Chips.
Letzter Akt.
Langsam beiße ich in einen Chip, höre das krachende Knacken der hauchdünnen Scheibe. Das soll das Letzte sein, was er auf dieser Welt sieht: seine fette Frau, die genüsslich ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgeht, während er langsam in seiner heiligen Badewanne ertrinkt. Ich lange gleich wieder in die Tüte. Seine Augen jagen panisch von links nach rechts, dann blickt er flehend zu mir. Er versucht sich zu recken, um den Kopf über Wasser zu halten. Doch wie sehr er sich auch bemüht, mehr als ein paar Zentimeter kann er den Kopf nicht nach oben schieben. Das Wasser erreicht seine Nase.
Schließlich ist diese unter Wasser.
Ich erhebe mich, drehe den Hahn zu und wende mich zum Gehen. Es reicht. Ich habe es getan. Wie Christina. Mir meine Würde zurückgeholt. Rache genommen. Sie wird auf immer in meiner Erinnerung verankert sein. Seinen Todeskampf möchte ich nicht miterleben. Ohne einen letzten Blick auf ihn zu werfen, verlasse ich das Bad.
Lydia las den letzten Abschnitt wieder und wieder. Ich habe es getan. Wie Christina. Mir meine Würde zurückgeholt. Rache genommen. Sie griff zum Telefon und wählte Kathis Nummer. Das Freizeichen tutete endlos. Sie stand auf, trat zum Fenster. War es möglich, dass …? Nein. Sie sah Kathi vor sich, wie sie ihren massigen Körper hin und her schaukelte, während sie den anderen zuhörte, errötete, sobald eine Frage an sie gerichtet wurde, nur flüsternd antwortete, immer den Blick auf Christina gerichtet, als müsste sie die Antwort von ihren Lippen ablesen. Auf der anderen Straßenseite stand ein Mann in der dunklen Hofeinfahrt und rauchte. Lydia beobachtete, wie die Glut bei jedem Zug hell aufleuchtete. Automatisch drückte sie sich an den Rand des Fensters, so dass sie von außen nicht sichtbar war. Kathi würde sich nie gegen Leo wehren. Kathis Worte tanzten vor ihren Augen: Ich habe es getan. Wie Christina. Lydia schauderte. Vielleicht meinte sie damit, dass sie endlich ihre Wut in Worte gefasst hat? So wie die anderen. Eine harmlose Übung.
In dem Mietshaus gegenüber brannte Licht. Obwohl Lydia die Bewohner nicht kannte, empfand sie die hellen Fenster in der heruntergekommenen Fassade als
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