Ich sehe dich
derzeit eindeutig gravierendere Probleme, auf die wir uns konzentrieren sollten.«
17
Es ist kurz nach Mitternacht, als Leo endlich nach Hause kommt. Ich höre, wie er sich ungeschickt am Schloss zu schaffen macht, und stelle mich schlafend. Wie üblich reißt er gleich die Schlafzimmertür auf und tritt gegen das Bett.
»Hey, was ist mit meinem Bad?«
Ich stehe auf. Hellwach. Er verschwindet ins Wohnzimmer und gießt sich seinen Whisky ein. Ich gehe ins Bad und drehe den Wasserhahn auf. Lausche. Gleich wird der Nachbar mit dem Besen an die Wand klopfen, damit ich das Wasser abstelle, das laut durch die alten Rohre rauscht. Leo wird als Antwort mit dem Fuß aufstampfen und ich morgen früh den bösen Blick ernten. Ich zähle langsam bis zwanzig, fünfundzwanzig, da: der Besenstiel. Ich zähle wieder. Fünf, zehn, zwanzig? Kein Stampfen? Ich drehe den Wasserhahn zu, ziehe den Stöpsel und schleiche den Flur entlang. Am Wohnzimmer bleibe ich stehen und spähe durch die halb geöffnete Tür. Ich halte den Atem an. Er liegt regungslos auf dem Sofa. Die Füße berühren den Boden, der Oberkörper ist im rechten Winkel zur Seite gerutscht. Das Glas liegt umgekippt neben seiner Hand, der Whisky tropft von dem billigen Lederimitat der Couch. Ich nähere mich auf Zehenspitzen, berühre ihn an der Schulter, jederzeit darauf gefasst, dass er ein Spiel mit mir treibt und nur so tut, als schliefe er. Doch er bleibt regungslos.
Schnell gehe ich zum Schrank und hole das vorbereitete Paketklebeband und die Schnur heraus. Ich zögere. Wo soll ich anfangen? Fieberhaft überlege ich. Ich habe noch nie jemanden gefesselt. Ich habe keine Ahnung, wo ich beginnen soll. Schließlich entscheide ich mich für die Hände. Falls er aufwacht, habe ich so die besten Chancen, mich in Sicherheit zu bringen. Ich verschränke seine Hände hinter dem Rücken und umwickele sie mehrmals mit der Schnur, mache einen dreifachen Knoten, umwickele sie noch zweimal und mache diesmal vier Knoten. Dann wiederhole ich die Prozedur mit den Füßen und Oberschenkeln. Ich überprüfe, dass Hände und Beine so fest verschnürt sind, dass er sich nicht durch heftige Bewegungen befreien kann. Zum Schluss nehme ich das Paketband, reiße eine großzügige Bahn ab und klebe sie auf seinen Mund. Ich schwitze. Wie schnell die Tabletten gewirkt haben. Damit habe ich nicht gerechnet. Ich beuge mich über ihn, schiebe meine Arme von hinten unter seine Achseln und ziehe ihn mit einem Ruck hoch.
Ich zucke vor Schmerz zusammen, presse die Lippen aufeinander, als ich ihn ins Badezimmer schleife. Dort hieve ich ihn mit meiner letzten Kraft in die Badewanne und schubse den schlaffen Körper in eine seitliche Stellung, um die Fuß- und Handfesseln so miteinander zu verknoten, dass er bewegungsunfähig bleibt. Dann drehe ich ihn auf den Rücken, die Beine nach hinten abgewinkelt.
Meine Handgelenke schmerzen. Mehrere der noch frischen, schmalen Narben haben sich an Leos grobem Leinenhemd aufgerieben und bluten.
Ich blicke in den Spiegel, sehe, dass mein Kopf vor Anstrengung hochrot ist. Schnell verlasse ich das Badezimmer und hole die Jumbotüte Paprika-Kartoffelchips.
Je länger ich auf dem Toilettendeckel sitze und Leo betrachte, desto nervöser werde ich. Dabei weiß ich genau, was ich als Nächstes zu tun habe. Es macht mir Angst.
Schließlich kommt er zu sich. Sofort drehe ich den Hahn auf. Das Wasser ist eiskalt.
»Gut geschlafen, Leo?«, frage ich und muss mich räuspern. Heimlich versuche ich, das Zittern meiner Hände unter Kontrolle zu bringen. In meiner Fantasie habe ich alles schon tausendmal durchgespielt, es hat sich immer so einfach angefühlt. Meine Stimme sollte zuckersüß klingen, ich sollte mich an dem Entsetzen in seinen Augen weiden. Doch es ist alles anders. Meine Stimme klingt nicht zuckersüß, sie versagt. In seinem Blick sehe ich nicht Entsetzen, sondern Wut. Er versucht, sich von seinen Fesseln zu befreien, er versteht nicht, was passiert. Ich weiß, was ich jetzt hören würde, wenn er nicht das Paketklebeband vor dem Mund hätte. Was soll das? Was machst du da? Warte, wenn ich hier rauskomme, ich mach dich fertig, du fette Sau!, würde er brüllen und ich vor Angst schlottern. Aber er kann mich nicht anschreien oder sich befreien, obwohl seine Bewegungen immer unkoordinierter und wütender werden. Schließlich gibt er auf und starrt mich an.
Ich beobachte, wie die Wut in seinen Augen der Erkenntnis weicht, dass er mir ausgeliefert ist. Ob er
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