Ich sehe dich
wie die Wassertropfen langsam in die Wanne rannen, und stellte sich vor, wie sie später die unvermeidlichen Kalkspuren auf der Wand hinterlassen würden.
Sonntag, 14. Dezember
24
Und wenn Tinis Lover Paul aus dem Weg geräumt hat? Sara stellte sich vor ihre Kletterwand, richtete den Fokus auf die Route und prägte sie sich ein. Der Sprung im zweiten Drittel war Wahnsinn. Sie fasste nacheinander mit beiden Händen in den Magnesiumsack und stieg ein. Ihre rechte Hand umschloss den ersten schwarzen Hartgummi. Langsam platzierte sie einen Fuß auf einem winzigen Vorsprung, brachte ihren Oberkörper in maximale Streckung und quetschte drei Finger in ein Fingerloch. Dann stieß sie sich mit dem zweiten Fuß von der Wand ab und schwang beide Beine mit einer kräftigen Bewegung der Hüfte in die Horizontale. Der rechte Fuß fand auf einem weiteren daumengroßen Hartgummigriff Halt, den linken presste sie gegen die glatte Wand .
Was, wenn Tini davon weiß und versucht, ihn zu decken? Sie zuckte zusammen. Sofort spürte sie den Verlust der Spannung. Ihr Fuß rutschte ab, während Adrenalin durch ihren Körper schoss. Sie presste die Zähne zusammen und sicherte ihre Position.
Konzentrier dich!
Sie holte tief Luft und bewegte ihre Beine langsam nach oben zurück. Ihre Bauchmuskeln brannten. Endlich ertastete ihr Fuß die Wölbung, sie verlagerte ihr Gewicht auf den wiedereroberten Haltepunkt. Mit der rechten Hand hakte sie sich in die Spalte links über ihrem Kopf ein und zog sich nach oben, wechselte dann mit den Füßen die Halteposition.Sie atmete ruhig und fixierte das nächste Ziel in der Wand. Es war unmöglich, diesen Punkt ohne einen Jump zu erreichen. Aber aus dieser Position schaffte sie keinen Absprung.
Sie verstärkte den Fersendruck, löste die Finger der rechten Hand und brachte sie in Warteposition neben die linke, als der durchdringende Ton der Türglocke sie aufschreckte. Ronnie musste seinen Schlüssel vergessen haben.
»Jonas! Mach Papa auf!« Sie hörte die flinken Schritte ihres Sohnes und das Öffnen und Schließen der Tür. Jetzt! Blitzschnell zog sie die Linke aus dem Schlitz und verankerte die Rechte darin, während sie die linke Hand nach dem nächsten Haltepunkt ausstreckte. Dann löste sie ihren Griff, um ihren Oberkörper die letzten Zentimeter zum nächsten Ankerpunkt zu schieben. Ihr Fuß schnellte zum nächsten Vorsprung, verpasste ihn, und sie sackte nach unten. Automatisch schlossen sich ihre Hände um die bunten Hartgummigriffe in ihrer Reichweite, dann suchte sie mit den Füßen nach Halt.
»Mama! Du schummelst! Du bist auf Gelb! Und auf Blau!«
»Schummeln?« Michaels Stimme traf Sara wie ein Schlag. »Für mich sieht das ziemlich gut aus.«
Sie riss ihren Kopf herum. Tatsächlich. Michael stand neben Jonas in ihrem Arbeitszimmer.
»Das ist doch pipisch«, antwortete Jonas abschätzig. »Alle Farben nehmen, das kann jeder.«
»Pipisch?« Michael grinste. »Ich kann das nicht.«
Jonas musterte ihn kurz. »Doch. Ganz sicher. Aber nur die schwarzen, das kann nur meine Mami.«
Dann drehte er sich um und hüpfte zurück ins Wohnzimmer, aus dem jetzt die Erkennungsmelodie einer Kinderserie klang. Sara sprang auf die Matte am Fußboden, zog mit einem Ruck die engen Schuhe von den Füßen, löste den Magnesiumsack und wischte ihre weißen Finger an der schwarzen Sporthose ab, bevor sie Michael die Hand reichte.
»Hast du Zeit für einen Kaffee?«
»Immer«, antwortete sie und hoffte, dass sie nicht so zerzaust aussah, wie sie sich fühlte.
Sara stellte zwei Tassen Cappuccino auf den Küchentisch und setzte sich zu Michael. Obwohl er seit der Begrüßung noch kein Wort gesprochen hatte, spürte sie, wie sehr er darauf brannte, ihr etwas zu erzählen. »Bringst du Neuigkeiten von Tini?«
Ohne den Blick von ihm abzuwenden, schob sie die Zuckerdose neben seine Tasse.
»Danke.« Michael lächelte sie an. »Nicht direkt. Aber Neuigkeiten, die einen unangemeldeten Besuch am Sonntagmorgen rechtfertigen.« Er löffelte Zucker in seinen Kaffee. »Es geht um einen Anwaltskollegen von mir.«
»Einen Kollegen von dir?«
»Er ist tot. Ermordet. Die Todesursache ist noch unklar.«
»Was?« Entsetzt hielt sich Sara die Hand vor den Mund und starrte ihn an. Das Bild von Brad Pitt als Joe Black, der Todesengel, schoss ihr durch den Kopf. Wer war dieser Mann, der sie über seine Tasse hinweg anlächelte, während er ihr eine Hiobsbotschaft nach der anderen überbrachte? »Tot?«
»Ja.«
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