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Ich sehe dich

Titel: Ich sehe dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Clark
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schlimm? Wenn sie immer so mutig und entschlossen und empathisch sein könnte? Brauchte sie dazu wirklich eine rote Haarmähne und einen Namen, der Stärke signalisierte?
    Gedankenverloren zog sie ihre Kleidung aus und stellte sich unter die Dusche. Wenn sich nur alles so einfach mit warmem Wasser abwaschen ließe, dachte sie und schloss die Augen, um die einzelnen Tropfen auf ihrer Haut besser zu spüren. Prickelnd, warm und wohltuend. Als schließlich das Wasser abkühlte, drehte sie schnell den Hahn zu. Sie musste nicht kalt duschen, um zu beweisen, dass sie keine Memme war. Dazu musste man nur ihren geschundenen Körper ansehen. Mit dem linken Zeigefinger fuhr sie über die kleinen runden Brandnarben, die sich in einem klaren Schriftzug über ihren Oberschenkel zogen. Sie konnte das Wort deutlich erkennen: Luder.
    Ihr Blick blieb am L hängen. Hätte sie es verhindern können? Rechtzeitig das Inferno verlassen? Sie umkreiste die Narben mit ihrem Finger. Hätte sie die Veränderung in seinem Verhalten wahrgenommen, wenn sie nicht so sehr mit sich selbst beschäftigt, sich seiner Liebe nicht so sicher gewesen wäre? Heute ja. Heute würde sie die Nuancen in seiner Stimme erkennen, die Eifersucht, die Verletzung. Sie würde sein Kindheitstrauma nicht als romantische Herausforderung begreifen, sondern als das, was es wirklich war: ein Pulverfass, das jederzeit explodieren konnte, ein Handicap, das ihn daran hinderte, Zwischentöne zu erkennen und normale Beziehungen zu führen. Aber damals? Sie hatte sich gefallen in ihrer Rolle als Retterin. Sie, die Überlegene. Wie naiv sie gewesen war. Ihr Finger wanderte zu dem obersten Brandmal zurück. Damit hatte er die Brandstrafen angefangen. Sie versuchte, sich an den Auslöser für die Erziehungsmaßnahme, wie er es genannt hatte, zu erinnern. Die vergessene Bügelfalte in seiner Leinenhose? Nein, da hatte er ihr das Bügeleisen an den Kopf gehauen, damit sie es sich merkte. Sie hatte es sich gemerkt. Sie bohrte ihren Finger in die unterste Narbe. Die Fingerkuppe passte genau in das runde Brandmal. Es war am Tag danach gewesen, wahrscheinlich hatte sie von dem Schlag mit dem schweren Eisen eine Gehirnerschütterung gehabt.
    »Was ist das für ein Saufraß?«
    Mit hochrotem Kopf steht er vor ihr und lässt den Teller vor ihren Füßen auf den Boden krachen. Das Porzellan zerspringt in tausend Stücke. Das Putengeschnetzelte und die matschigen Kartoffeln spritzen nach allen Seiten und hinterlassen überall gelbliche und braune Spuren. Sie fängt an zu zittern.
    »Ich … Es tut mir leid. Ich bin eingeschlafen. Da ist es … Es ist verbrannt. Mir … Es geht mir nicht gut.«
    Er steht vor ihr. Zündet sich eine Zigarette an. »Ach?«
    Ein hässliches Lächeln breitet sich auf seinen Zügen aus. Ihr Zittern wird stärker. Sie kennt dieses Lächeln.
    »Es tut mir leid. Ich hab das Verbrannte weggeschnitten, ich hab versucht … «
    »Ich hasse verbranntes Fleisch«, sagt er und stößt sie hart zu Boden. Sie fällt in die Essensreste, spürt, wie Porzellanscherben sich in ihren Arm bohren. Er hockt sich neben sie. Mit einer Hand drückt er ihre Kehle zu. Mit der anderen Hand presst er die glühende Zigarette auf ihren Oberschenkel. »Sklaven werden gebrandmarkt. Damit sie wissen, wer sie sind.«
    Mit tupfenden Bewegungen trocknete sie sich die Beine ab. Wenn sie tupfte, wurden die Narben nicht rot. Dann nahm sie den blau-grün karierten Schlafanzug von der Heizung und schlüpfte hinein. Das Gefühl des warmen Nikkistoffs auf ihrem nackten Körper erinnerte sie an ihre Kindheit, an die heiß ersehnten Ferien bei der Großmutter, die sie einmal im Jahr verwöhnte und sie nach dem Tod des Großvaters sogar in ihrem Bett hatte schlafen lassen. Wie gerne würde sie jetzt zur Großmutter in das breite, weiche Bett mit dem dicken, immer frisch aufgeschüttelten Daunenplumeau kriechen.
    Seufzend putzte sie mit dem Handtuch die Tropfen von den Kacheln. Wassertropfen hinterließen Kalkflecken, und wie er diese entfernte, würde sie auch nie vergessen. Bei dem Gedanken daran, wie er damals brutal ihren Kopf gepackt und mit ihren Haaren den Kalkentferner von der Wand gewischt hatte, brannten ihr noch immer die Augen. Wie lernfähig sie doch war. Nie wieder hatte sie versäumt, das Bad vor dem Verlassen von Wasserspuren zu befreien.
    Sie hielt mitten in der kreisförmigen Bewegung inne, nahm den Duschkopf, drehte den Hahn auf und spritzte die hellgrauen Kacheln ab. Dann beobachtete sie,

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