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Ich sehe dich

Titel: Ich sehe dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Clark
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der Lebensversicherung?«
    »Das ist einer der ersten Punkte, die ich als Anwalt bei einem Mordverdacht unter Ehepartnern abkläre.«
    »Wusstest du auch, dass ihr jemand Geld leihen wollte? Mindestens siebentausend Euro, vielleicht sogar zehntausend.«
    Michael starrte schweigend auf sein Weinglas.
    »Ich frage mich schon die ganze Zeit, wer das gewesen sein könnte«, fuhr Sara fort. »Überleg mal, das ist eine Menge Geld. Das leihe ich doch nicht jemandem einfach so.«
    »Ich sehe keinen Zusammenhang zwischen dem Geld und dem Mord.«
    »Doch!«, platzte Sara heraus. »Wenn er ihr Liebhaber war! Der hätte ein Motiv gehabt!«
    »Liebhaber? Wie interessant! Jetzt weiß ich endlich, wieso der Herr Anwalt keine Zeit mehr für seine Musikerfreunde hat.« Der dröhnende Bariton gehörte einem etwa vierzigjährigen Mann mit Glatze und Ziegenbart, der jetzt beide Hände auf Michaels Schultern stützte.
    »René.« Michael seufzte ergeben und hob mit einem Schulterzucken entschuldigend die Hände. »Setz dich – das heißt, wenn Sara nichts dagegen hat, wir sind gewissermaßen geschäftlich hier.«
    »Nein, natürlich nicht.« Sara rutschte und machte René Platz. Etwas zu schnell schlug sie ihr Notizbuch zu und verstaute es in ihrer Tasche unter dem Tisch, den Kopf gesenkt, um die Enttäuschung über die Störung zu verbergen. Schließlich richtete sie sich auf und lächelte René an. »Hast du genug Platz?«
    Ob er Tinis Typ wäre? Vielleicht von seinem unkomplizierten Auftreten her, aber der Ziegenbart? Wie ihr Liebhaber wohl aussah? Sie ließ den Blick durch die überfüllte Kneipe wandern und erkannte, dass sie keine Ahnung hatte.

22
    Er stellte die fragile Porzellanfigur zurück in die Vitrine und nahm die nächste heraus. Eine Schäferin mit Kind und Schaf, das Pendant zu dem Schäfer mit Hirtenstab und Hund, den er gerade vom Staub befreit hatte. Schlaf, Kindlein, schlaf, der Vater hüt’ die Schaf … Vorsichtig fuhr er mit dem Mikrofasertuch über die feine Zeichnung des Schaffells und summte die Melodie des alten Kinderliedes vor sich hin.
    Nie hast du mir ein Schlaflied gesungen.
    Nie.
    Oder eine Gute-Nacht-Geschichte erzählt. Oder mich in den Arm genommen. Oder mir ein nettes Wort geschenkt. Ich war ein Kind.
    Dein Kind. Dein einziges Kind.
    Dein Sohn.
    Er wischte über den freien Platz neben dem Hirten und platzierte die Schäferin neben ihrem Mann.
    Ich hätte meinen Sohn jeden Abend in den Schlaf gewiegt. Ihm ein Lied gesungen. Aber er hätte keine bessere Mutter gehabt als ich.
    Er widmete sich dem nächsten Regal des Vitrinenschrankes und nahm ein graviertes Sektglas heraus. Er zeichnete mit dem Tuch die geschwungene Schrift nach. Lydia .
    Plötzlich überkam ihn eine Welle des Hasses. Er schloss seine Faust um das Glas und drückte so fest zu, dass es in seiner Hand zerbrach. Eine Scherbe schnitt in sein Fleisch, ein dünnes Rinnsal Blut lief seinen Arm entlang. Ich habe dich auf Händen getragen. Alles für dich getan. Mich geändert. Neu angefangen. Und du? Du konntest es gar nicht abwarten, mich zu hintergehen, zu verhöhnen mit deinen sogenannten Freunden, dachtest, sie wären etwas Besseres. Besser als ich.
    Du hast mir keine Wahl gelassen. Das weißt du genau.

23
    Lydia nahm die Perücke ab und stülpte die roten Locken über den Styroporkopf mit dem aufgemalten Schmollmund. Sie kratzte sich die Stelle über dem Ohr, die immer besonders unter der falschen Haarpracht juckte, und schraubte das Aufbewahrungsgefäß für ihre Kontaktlinsen auf. Vorsichtig nahm sie die Linse von ihrer rechten Pupille und ließ sie in die Flüssigkeit gleiten. Aus dem Spiegel starrte sie ein blasses Gesicht mit einem grünen und einem braunen Auge an.
    Sie nahm nun die zweite Linse heraus und zwinkerte mehrmals. Dann benetzte sie ihr Gesicht, trocknete sich ab, ohne das Handtuch von seinem Halter zu nehmen, und betrachtete ihr Spiegelbild. Ihr wahres Spiegelbild. Ihre kurzen, fast schwarzen Haare brauchten dringend einen Schnitt, und ihr sonst so frischer Teint war unnatürlich bleich. Mit den Zeigefingern zog sie die zwei Falten nach, die sich auf beiden Seiten vom Mundwinkel zur Nase hochzogen, und fuhr dann über die dunklen Augenringe, die sich unter den braunen Augen abzeichneten. Es waren ihre Augen, die im Spiegel müde blinzelten, doch es war Valeskas Blick, mit dem sie ihr Gesicht kritisch musterte. Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, wie sehr Valeska bereits von ihr Besitz ergriffen hatte. War das so

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