Ich sehe dich
warf eine Strähne des rotblonden Kunsthaars über die Schulter und versuchte, einen unbeschwerten Gesichtsausdruck aufzusetzen. »Vergiss einfach, was du eben gesehen hast. Es ist nicht wichtig. Nicht für dich.«
Sie zog die schwarz gerahmte Brille aus einer der vielen Hosentaschen und ging voraus zum Büro. Dort bot sie Sara den bequemen Sessel zwischen Schreibtisch und Tür an. Lydia setzte sich an die andere Seite des Schreibtischs und tippte etwas in den Computer. » Die Seite kann nicht angezeigt werden … Nicht verfügbar? Das gibt’s doch nicht.«
»Warum?«, fragte Sara wieder. »Wozu die Verkleidung? Was soll das, Valeska?«
Lydia hämmerte auf ihre Tastatur ein. »So eine Sch… Die haben das Forum komplett dichtgemacht! Solche Idioten! Als ob das etwas bringen würde.«
Wutentbrannt versetzte sie der Tastatur einen Stoß. »Erst die Folterkammer, jetzt das Forum … Ich möchte wissen, was die sich davon versprechen.«
»Warum, Valeska?« Sara ließ sie nicht aus den Augen. »Was für ein Spiel spielst du?«
»Spiel? Du glaubst, das ist ein Spiel?« Lydias Lachen klang bitter. Zu bitter für eine Valeska. Valeska war nicht bitter, sie war stark.
»Was dann? Du hast die Regeln für die Gruppe aufgestellt. Alle müssen sich entblößen, ihre Wunden zeigen. Sogar ich, obwohl ich gar nicht Teil der Gruppe bin. Wo ist deine Folterkammerfantasie? Ich hab sie gesucht. Warum verlangst du von den anderen einen Seelenstriptease, wenn du nicht mal bereit bist, dein wahres Aussehen mit ihnen zu teilen?«
Lydia starrte Sara an. Einzelne Strähnen hatten sich aus Saras Zopf gelöst und hingen ihr in die Augen. Ruhig fuhr sie mit der rechten Hand über ihre Stirn und strich sich die Strähnen aus dem Gesicht. Sie sah sie unverwandt an, als wollte sie einen Blick durch ihre Fassade werfen und ihre geheimsten Gedanken freilegen. Lydia dachte an Marens Reaktion am Vormittag, an ihre Verunsicherung, als sie die Wahrheit über sie erfahren und realisiert hatte, dass sie auch nur eine von ihnen war: misshandelt, verängstigt und auf der Flucht. Und dennoch hatte Maren zum Schluss noch größeres Vertrauen in sie gehabt als je zuvor, sich von ihr zum Arzt bringen und ihre Verletzungen dokumentieren lassen, in ein Gespräch mit der Sozialarbeiterin eingewilligt und fest versprochen, ihn dieses Mal anzuzeigen. Sie seufzte tief. Dann riss sie sich die Perücke vom Kopf und warf sie in hohem Bogen hinter sich. Sie landete an der Wand und fiel auf den Boden.
»Okay. Was soll’s. Schluss damit. Die rote Kriegerin existiert nicht mehr, seit er sie enttarnt hat.«
»Er?«
»Mein Mann.« Mein Mann , wie das klang. Und doch war es die Wahrheit. Noch immer waren sie Mann und Frau, bis dass der Tod euch scheidet …
»Möchtest du darüber sprechen?« Der angespannte Zug um Saras Mund löste sich in ein weiches Lächeln auf, schüchtern und aufmunternd zugleich, als wüsste sie, dass sie sich auf schwieriges Terrain begab.
»Nein.« Lydia nahm die Brille ab und knallte sie auf den Tisch.
»Okay. Dann lass mich wenigstens ein paar Fragen stellen. Du bist also auf der Flucht. Warum gehst du nicht zur Polizei? Das rätst du den anderen.«
Lydia schob Zentimeter für Zentimeter den Ärmel ihres Pullovers nach oben und entblößte eine Anzahl kleiner, runder Brandnarben, die zwei ineinander verschlungene Ringe darstellten.
»Ein Geschenk zum zweiten Hochzeitstag«, presste sie hervor. Sie sah, wie Sara zurückzuckte und den Blick schnell von den Narben abwandte.
»Bist du deshalb so überzeugt, dass Tini Paul vergiftet hat? Weil du deinen Mann am liebsten tot sehen würdest?«
»Nein.« Sie schob den Ärmel über ihren Unterarm und versteckte die Narben unter dem weichen Flies des schwarzen Sweatshirts. Ja, sie würde ihn am liebsten tot sehen. Sie verschränkte die Finger und legte sie vor sich auf den Tisch. »Aber ich weiß, wie sehr man jemanden hassen kann. Ich weiß, wie Verzweiflung und Angst einen verändern. Es heißt nicht umsonst Verzweiflungstat, wenn eine Frau ihre Kinder mit in den Tod nimmt, um sie vor dem eigenen Vater zu schützen.«
Ihre Fingerknöchel traten weiß hervor, die Kuppen färbten sich dunkelrot und fingen an zu kribbeln, so fest presste sie ihre Hände zusammen.
»Ich habe im Frauenhaus eine Mutter von drei Kindern kennengelernt. Anina. Sie hat mir beigebracht, mein Leben in die Hand zu nehmen. Verantwortung zu übernehmen. Sie hat mit mir die erste Selbsthilfegruppe gegründet. Dann hat
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