Ich soll nicht töten
Jasper. Ich war so wütend auf deine Mom. Am Anfang. Ich sag dir lieber nicht, was ich mir alles überlegt habe, ihr anzutun, denn es könnte dich verstören, Junge, und das will ich nicht. Ich weiß, wie sensibel du bist. Aber dann bist du zur Welt gekommen, Jasper. Du bist so leicht herausgerutscht wie nur was, hast deiner Mama keine Schmerzen bereitet, kaum Wehen. Bist einfach herausgeflutscht, praktisch in meine Arme, mein Junge, mein Sohn, meine Zukunft. Deshalb habe ich deiner Mom ihr Täuschungsmanöver vergeben.«
» Was hast du mit Mom gemacht?«, fragte Jazz mit erstickter Stimme. Er hatte nicht beabsichtigt, diese Frage zu stellen. Er wollte sie nicht stellen, aber er war hilflos, in Billy Dents Bann, genau wie die anderen Opfer Billys, denn ohne Frage war Jazz so sehr ein Opfer wie sie alle. Oder etwa nicht?
» Gemacht? Was ich mit deiner Mom gemacht habe?« Ein Achselzucken. » Nichts.«
… genau wie Hähnchen schneiden …
… braver Junge …
» Was hast du mich machen lassen?«, flüsterte Jazz.
Billy grinste.
» Was hast du mich machen lassen? Hast du mich gezwungen, meine Mutter zu töten?«
Billy lachte. » Erinnerst du dich nicht?«
Nein, er erinnerte sich nicht. Er konnte es nicht. Er erinnerte sich daran, wie Billy Rusty gehäutet hatte, er erinnerte sich an die Lektionen mit dem Löschkalk, an so viele Schrecken, aber er konnte sich nicht an das Wichtigste von allem erinnern. Er konnte sich nicht erinnern…
… tu es!
… schneide …
Das Messer.
Es war Mom. Ich habe Mom mit dem Messer geschnitten. Billy hat mich gezwungen.
Der Raum drehte sich um Jazz. Die ganze Sache war verrückt. Ein Fehler. Ein Riesenfehler. Er war nicht ganz bei Trost gewesen hierherzukommen. Billy Dent war der Meister der Manipulation, der König nicht nur der Strafanstalt, sondern auch des psychischen Raums zwischen Vater und Sohn. Er war der Herr über Jazz’ Geist. Hatte Billy diesen Geist nicht schließlich geformt? Hatte er Jazz nicht gezeugt, aufgezogen und angeleitet, wie es jeder andere Vater tun würde? War Jazz nicht das Geschöpf seines Vaters?
Billy. Billy in der Vergangenheit, der Jazz mit dem Messer nötigt. Billy in der Gegenwart, immer noch grinsend, der jetzt flüstert: » Wie heißt sie, Jasper? Sag deinem guten alten Vater, wie deine süße Kleine heißt. Ich will daran denken, wie glücklich du bist, und dafür brauche ich einen Namen. Sag mir, wie sie heißt.«
Connie, dachte Jazz, aber er würde sich nicht erlauben, es zu sagen. Er durfte ihren Namen nicht besudeln, indem er ihn vor seinem Vater nannte. Er konnte die Vorstellung nicht ertragen, dass Billy Dent diesen Namen wusste, und erst recht nicht, dass er ihn laut aussprach.
» Sag mir ihren Namen, mein Sohn.«
Connie …
Und dabei fiel ihm ein, was sie gesagt hatte. Dass er nicht wie sein Vater sein musste, dass er sich über seine Erziehung erheben konnte. Söhne sind nicht ihre Väter. Nicht die guten, nicht die bösen. Söhne bekommen eine zweite Chance. Du musst nicht sein, was dein Vater ist. Du hast nicht seine Augen und musst nicht so leben wie er.
» Ich bin noch unschuldig«, sagte er.
Billy schnaubte angewidert und lehnte sich zurück. Jazz war zumute, als wäre der Raum plötzlich mit reinem Sauerstoff geflutet worden – er konnte jetzt sehr viel leichter atmen.
» Nein. Nein, das bist du nicht. Wenn du mich anlügen willst, haben wir nichts zu besprechen«, sagte Billy.
Jazz war es egal, dass Billy es für eine Lüge hielt. Es spielte keine Rolle. Was zählte, war, dass es den Bann gebrochen hatte, dass er wieder denken konnte.
Es hatte auf Jazz’ Seite des imaginären Zauns den Strom wieder eingeschaltet.
» Tut mir leid«, sagte er so zerknirscht wie nur möglich. » Ich hätte nicht lügen sollen. Ich bin nicht mehr unschuldig. Sie heißt…«, Heidi, Linda, Rae, Dolores, Juanita, Chelsea, Tonya, » …Tonya.«
» Tonya?« Billy runzelte die Stirn. » Ich hab mal eine Tonya umgebracht. Perfekte kleine Titten. Falscher Rotschopf. Ich hasse das.«
» Ich erinnere mich«, sagte Jazz. » Ich erinnere mich an die Trophäe.«
Erfreut beugte sich Billy wieder vor. » Sag es mir.«
» Lederhandschuhe«, sagte Jazz. » Kinderhandschuhe. So braun, dass sie fast rot waren. Sie waren so glatt und weich. Ich weiß noch, wie ich mir vorgestellt habe, dass sich eine Frau so anfühlen muss.«
Billy lachte. » Du hast mein Gedächtnis, so viel steht fest, Jasper. Aber du hast das Talent deiner Mutter für
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