Ich soll nicht töten
sie gewusst hätte, was Jazz in der Nacht zuvor wirklich getan hatte…
Er sah Howie im Flur und erzählte ihm, was G. William gesagt hatte, aber jetzt, da sie den Namen des Opfers kannten, war » Jane Doe« ein alter Hut für ihn. » Ich will nur wissen, wann mein neues Tattoo kommt, Mann.«
Ach ja, richtig. Jazz bekam schon beim Gedanken daran eine Gänsehaut. » Ich habe im Moment viel um die Ohren, Howie. Vielleicht nächste Woche.«
Er war den ganzen Schultag lang mürrisch und schlecht gelaunt. Connie versuchte, ihn aufzumuntern, aber er wollte nichts davon wissen. » G. William hatte bei der Ermittlung die Nase vorn«, sagte er in der Mittagspause zu Connie. Sie saßen unter einem Baum auf dem Rasen vor der Schule. Es war Ende Oktober und schon so kühl, dass der Rasen spärlich bevölkert war und sie ungestört blieben. » Das ist schlimm genug. Aber er glaubt mir immer noch nicht, dass es ein Serienmörder ist.«
» Erstens«, sagte sie und bot ihm Weintrauben an, » sieh es so: Er hatte den ganzen Polizeiapparat hinter sich, und du hattest nur Howie, und trotzdem hast du mit ihm Schritt gehalten. Zweitens hast du dir noch immer einen Arschtritt verdient, weil du losgezogen bist und so eine Dummheit gemacht hast, obwohl du versprochen hast, du würdest es nicht tun. Drittens, vielleicht hat er recht– vielleicht gehst du vorschnell von einem Serienmörder aus. Was nur logisch wäre«, fügte sie hinzu. » Und viertens«, schloss sie, » kriegst du einen Arschtritt, weil du letzte Nacht losgezogen bist, nachdem du gesagt hast, du tust es nicht.«
» Das hast du zweimal gesagt.«
» Dann kriegst du eben zwei Arschtritte.«
Aber wirklich wütend wurde sie, als er sagte, er könne nicht zur Theaterprobe kommen. Die Schule verfolgte diesbezüglich eine strikte Linie: Schüler, die unentschuldigt ganz oder teilweise an einem Tag fehlten, durften an diesem Tag nicht an Aktivitäten außerhalb des Stundenplans teilnehmen. Es war Jazz verboten, bei der Probe mitzumachen.
Ginny entdeckte ihn bei Schulende im Flur und stellte ihn zur Rede. Sie war ein winziges Ding, kaum über eins fünfzig, aber ihre Schauspielausbildung verlieh ihr eine übergroße Präsenz. » Jasper! Erinnerst du dich an den ersten Tag des Vorsprechens?«
» Äh, ja.« Er sah sich nach einem Ausweg um. Es gab keinen. » Connie hat mich wohl verpetzt, was?«
» Versuch nicht abzulenken. Weißt du noch, wie ich sagte, die Mitwirkung an diesem Stück sei eine Verpflichtung, eine Verpflichtung mir gegenüber, deinen Mitspielern gegenüber und dir selbst gegenüber?«
» Sicher.« Er erinnerte sich vage.
» Warum enttäuschst du mich dann heute? Warum enttäuschst du deine Kollegen? Und vor allem, warum enttäuschst du dich selbst?«
Jazz stöhnte innerlich. Appelle an sein Schuldbewusstsein funktionierten selten bei ihm, aber er wusste, was von ihm erwartet wurde, deshalb spielte er mit.
» Es tut mir wirklich leid«, sagte er. » Aber schau– ich kann meinen Text schon länger als irgendwer sonst auswendig. Ich werde bis morgen nichts vergessen.«
» Darum geht es nicht, Jasper. Es geht darum, dass du Wort hältst. Es geht darum, dass du für die anderen Leute in dem Stück da bist, die sich auf dich verlassen.«
» Es tut mir wirklich leid«, sagte Jazz erneut, um noch mehr Aufrichtigkeit bemüht. Er hatte wichtigere Dinge zu tun, als sich mit Ginny Davis und ihrem kindischen kleinen Ärger herumzuschlagen. Sie war so eine komische Figur, dass er sie am liebsten hochgehoben, geschüttelt und dazu geschnurrt hätte: Wer ist hier wütend? Wer ist der wütendste kleine Pisser?
» Es wird nicht wieder vorkommen«, versprach er und setzte die ernsteste, niedergeschlagenste und weidwundeste Miene in seinem Arsenal auf.
Sie schmolz im selben Augenblick dahin und streckte die Arme aus. Jazz erstarrte. Nie und nimmer würde er zulassen, dass sie ihn umarmte.
Ginny nutzte seine Erstarrung aus, schlang die Arme um ihn und drückte ihn fest.
Und er fühlte…
Alles.
Er war sich des Drucks und der Gegenwart ihres Körpers genauestens bewusst, des Kitzelns ihres Lockenhaars genau unter seiner Nase, der kleinen, festen, vorstehenden Brüste an seinem unteren Brustkorb.
Ihres Geruchs.
Darüber hinaus war er sich jedoch auch ihrer Zerbrechlichkeit bewusst. Er dachte an seine behandschuhten Hände an Fiona Goodlings Hals, an die behandschuhten Hände des Mörders, an Billys Hände, an Trophäen, Finger und Messer.
Er hatte entsetzliche Angst
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